Köln/Essen. NRW ändert die Quarantäneregeln für Kitas und Schulen. Davon profitieren Familien wie die Tiedges, deren Tochter in eine „Ketten-Quarantäne“ kam.

Wenn der Quarantänefrust zu Hause zu groß wird, dreht Familie Tiedge die Musik laut an. Es gebe eine ganze Liste von Liedern, sagt Maaike Tiedge, die sie dann für sich und die fünfjährige Tochter anstelle. „Wir tanzen uns den Ärger von der Seele“, sagt die 43-Jährige. In den vergangenen Tagen gab es reichlich Anlass dafür: Das Mädchen ist von einer Corona-Quarantäne in die nächste gekommen.

Vor gut drei Wochen habe es einen Corona-Fall in der Kölner Kita-Gruppe des Mädchens gegeben. 14 Tage musste es zu Hause bleiben, auch ein negativer Corona-Test hat daran nach bisheriger Rechtslage nichts geändert. Am Morgen der Rückkehr sei die Freude groß, aber nur von kurzer Dauer gewesen, erzählt Tiedge: Nach nur einem Tag in der Kita habe das Kölner Gesundheitsamt erneut eine 14-tägige häusliche Isolation für die Fünfjährige angeordnet. Bei einem Kind, mit dem die Kleine etwa eine halbe Stunde in einem Raum gewesen sei, sei eine Infektion festgestellt worden. „Als die Nachricht kam, habe ich laut geweint“, gibt Maaike Tiedge rundheraus zu.

NRW geht bei neuen Quarantäne-Regeln über Minister-Beschluss hinaus

Seit Wochen erhitzen die 14-tägigen Quarantäneregelungen in Schulen und Kindertagesstätten die Gemüter in NRW. Erst am Montag haben sich die Gesundheitsminister der Länder auf einheitliche und einfachere Vorgaben geeinigt, damit sich künftig möglichst wenig Kinder und Jugendliche in die Isolation begeben müssen. NRW geht jetzt einen Schritt weiter und will bei einzelnen Corona-Fälle in Klassen oder Kita-Gruppen alsbald nur noch die infizierten Kinder selbst in Quarantäne schicken. Ein neuer Erlass soll in dieser Woche veröffentlicht werden.

Zum neuen Konzept, auf das sich das Landeskabinett am Dienstag geeinigt hatte, gehören im Corona-Fall mehr Tests in der Schulklasse, Pflichttests in Kitas und nur bei weiteren Ansteckungen auch weitere Quarantänemaßnahmen. 14 Tage zu Hause, das wird es aber selbst dann bei gesunden Kindern nicht mehr geben: Nach fünf Tagen können Eltern sie mittels PCR freitesten.

Davon profitieren Familien wie die Tiedges.

Mutter: Kinder werden aus dem Leben genommen

Es sei nicht nur, dass man als Familie zwei oder vier Quarantäne-Wochen lang alles unter einen Hut bekommen müsse, sagt die zweifache Mutter und Führungskraft bei einem Schuh-Hersteller. „Unabhängig vom Lebensstandard der Familien tut es den Kindern nicht gut, über so lange Zeiträume aus dem Leben genommen zu werden“, so Maaike Tiedge.

Maaike Tiedge lebt mit ihren beiden Kindern und ihrem Mann in Köln.
Maaike Tiedge lebt mit ihren beiden Kindern und ihrem Mann in Köln. ©  Familien in der Krise |  Familien in der Krise

Sie merke das an ihrer jüngeren Tochter, die sich nach eineinhalb Jahren Pandemie, der inzwischen fünften häuslichen Isolation und vielen Wochen ohne Kita zurückziehe. „Das tut einem so weh.“ Maaike Tiedge hat in der Pandemie die Initiative „Familien in der Krise“ mitgegründet, die sich als überparteiliche Lobby für Familien in Deutschland versteht, und sich dort länger engagiert.

Geteiltes Echo auf Neuregelung: Zwischen „nicht verantwortbar“ und „zufrieden“

Das Echo auf die neuen Quarantäne-Regel ist in NRW dennoch äußerst gespalten. Der Landeselternbeirat der Kitas ist zufrieden. Kinder würden mehr in den Fokus gerückt und ihre Teilhabechancen erhöht. Ganz anders die Landeselternschaft der integrierten Schulen: Sie kritisiert, mit Infektionsschutz hätten solche Entscheidungen nichts mehr zu tun.

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Vom Netzwerk Kindertagespflege NRW, in dem sich Tageseltern zusammenschließen, heißt es, die Vorgaben seien „nicht verantwortbar“, der Schutz der betreuten Gruppen und der eigenen Familien sei gefährdet. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) wirft dem Land vor, „die neuen NRW-Regeln bringen weniger Sicherheit, sind vage und intransparent“.

Quarantänezahlen in Städten deutlich über Infektions-Meldungen

In einigen Städten kommt es derweil zu Ärger. Den Gesundheitsämtern fehlt bisher der notwendige Erlass der Landesregierung, um anders als bisher zu agieren. Zugleich machen Eltern Druck, um die aktuell noch 14-tägige Quarantänezeit auf für negativ getestete Kontaktpersonen unter Kindern und Jugendlichen verkürzen zu können.

Tatsächlich zeigen Zahlen aus einzelnen Städten, dass die bisherigen Quarantäne-Anordnungen allein für Kita-Kinder um ein Vielfaches über der Anzahl der gemeldeten Infektionszahlen liegen. Die Stadt Duisburg etwa nannte Anfang der Woche für die zurückliegenden 14 Tage sechs infizierte Kita-Kinder, die entsprechende Fälle ausgelöst hätten. Zugleich befanden sich 106 Kinder aus Kindertagesstätten in Quarantäne. In Essen gab es in den vergangenen 14 Tagen 45 Fälle von Corona-Infektionen unter Kindern zwischen drei und fünf Jahren. 320 Kinder dieser Altersgruppe waren Anfang der Woche aber in Quarantäne.

Arzt befürwortet Neuregelung: Kinder und Jugendliche haben zu hohen Preis gezahlt

Lob gibt es von Kinder- und Jugendärzten. Ihr Berufsverband hatte zuletzt für eine gezieltere Quarantäne nur von infizierten Kinder plädiert. Diese Forderung sei nicht leichtfertig gemacht worden, unterstreicht Axel Gerschlauer, Sprecher seines Verbandes in Nordrhein. „Wir fürchten und wir rechnen damit, dass die Anzahl der Corona-Infektionen unter Kindern und Jugendlichen steigen wird, wenn nun nur noch Infizierte in Quarantäne geschickt werden.“

Dr. med. Axel Gerschlauer
Dr. med. Axel Gerschlauer © Kinderarztpraxis Dr. med. Axel Gerschlauer | Benedikt Frings-Ness

Dennoch sei der Schritt in NRW nun richtig: „In der vierten Welle darf es nicht mehr heißen: Infektionsschutz um jeden Preis. Kinder und Jugendliche haben in den ersten drei Wellen einen zu hohen Preis gezahlt.“ Der Mediziner berichtet, er habe noch nie so viele Fälle von Depressionen, Essstörungen und Selbstverletzungen gesehen wie jetzt. Die Belastung vieler Kinder in den Lockdown-Zeiten sei hoch gewesen. „Man muss Infektionsschutz und Kinderrechte abwägen. Das ist ein Balanceakt.“ Die weitere Entwicklung sei engmaschig zu beobachten, so Gerschlauer: „Wir müssen genau im Blick haben, zu wie vielen schweren Krankheitsverläufen es kommt.“

Forderung nach stärkerem Schutzkonzept

Die Regelung in NRW, auf einen Corona-Fall mit Pflichttests in Kitas und mehr Tests in Schulen zu reagieren, hält Gerschlauer indes für nicht ausreichend. Nötig sei eine vollständige Umsetzung der sogenannten S3-Leitline für Schule in Pandemiezeiten, die eine interdisziplinäre Gruppe aus fast 40 Fachgesellschaften und Verbänden erarbeitet hat. Darin seien so einfache Maßnahmen wie ein gestaffelter Unterrichtsbeginn oder der Einsatz von mehr Schulbussen vorgesehen. „NRW hat die zweiten Sommerferien verschlafen, um einen konsequenten Schutz der Kinder umzusetzen“, ärgert sich Gerschlauer.

Auch der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Hans-Albert Gehle, forderte Nachbesserungen: Aus seiner Sicht reicht es nicht aus, in Tageseinrichtungen und Kita-Gruppen mit einem Corona-Fall auf verpflichtende Selbsttests zu setzen. „Da, wo positiv getestet worden ist, sollten wir es so halten wie in den Schulen und 14 Tage lang Lolli-Tests einsetzen“, sagte Gehle am Donnerstag in Münster. Er sprach sich für drei Testungen in der Woche aus, um sich nach einem Infektionsfall abzusichern. „Lolli-Tests“ sind Pool-Tests, die im Labor nach der PCR-Methode ausgewertet werden und deshalb als zuverlässiger gelten.

Und die Tiedges? Maaike Tiedge schreibt noch am Abend des Landesbeschlusses zu den neuen Quarantäneregeln, wie sehr sie sich freue. Sie wird sich nun um einen erneuten PCR-Tests für ihre Tochter bemühen, damit das Kind wieder ihre Kita-Freunde sehen kann.