Essen. Laut Techniker haben im Pandemiejahr weniger Frauen und Männer Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch genommen. Krebsmediziner sehen erste Folgen

Da ist der Fall einer 72-Jährigen mit starken Bauchschmerzen. In der Pandemie wollte sie nicht zum Hausarzt gehen und der Schmerzen verursachende Tumor wuchs unerkannt. Und da ist der Fall zweier Töchter, die in der Hochzeit der Pandemie ihre Mutter schützen wollten und nur noch mit ihr telefonierten. So konnten sie nicht sehen, wie sehr der Körper der älteren Frau unter der unentdeckten Krebserkrankung abgebaut hatte.

Es sind Beispiele wie diese, von denen die erfahrene Bochumer Krebsmedizinerin Prof. Dr. Anke Reinacher-Schick und ihre Kollegen und Kolleginnen derzeit häufiger zu berichten haben. Im Nachgang der dritten Welle der Corona-Pandemie habe die Zahl der Erstdiagnosen wieder deutlich zugenommen und zugleich sehe sie deutlich mehr fortgeschrittene Stadien, sagt die Direktorin der Klinik für Hämatologie und Onkologie am St. Josef-Hospital in Bochum, das Teil des Universitätsklinikums der Ruhr-Uni ist. „Der Krebs wird später entdeckt.“

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Aus Sicht von Fachleuten hat diese Entwicklung mit den Folgen der Pandemie zu tun. 2020 haben Menschen nach ihrer Einschätzung vermehrt Vorsorgeuntersuchungen aus Sorge vor einer Infektion nicht wahrgenommen. Zugleich hat die Pandemiebekämpfung die Gesundheitsbranche massiv gefordert und speziell die Kliniken in der ersten Welle ganz erheblich geprägt.

Zahl der Vorsorgeuntersuchungen geht laut Techniker im Pandemiejahr zurück

Die „Techniker“ hat bundesweit aufgeschlüsselt, wie sehr Versicherte ihnen zustehende Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch genommen haben. Danach haben Frauen wie Männer in NRW deutlich seltener an gesundheitliche Check-Ups teilgenommen. Im Detail haben sich unter den TK-Versicherten in NRW nur rund 13 Prozent der Frauen über 35 Jahren und knapp zwölf Prozent der Männer in dieser Altersgruppe ärztlich durchchecken lassen. Ein Jahr zuvor waren es noch rund 23 und etwas über 20 Prozent. Der Trend ist bundesweit zu sehen.

Barbara Steffens, Leiterin der Techniker Landesvertretung in NRW, beobachtet, dass viele Menschen unsicher waren und immer noch sind, ob sie während der Corona-Pandemie zum Arzt gehen sollten. „Das kann fatal sein“, so Steffens. Sie unterstreicht die Bedeutung der Krebsvorsorge: „Je eher eine Krebserkrankung erkannt wird, desto besser sind die Heilungschancen.“

Prof. Dr. Anke Reinacher-Schick, Direktorin der Abteilung für Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin am St. Josef-Hospital, das zum Katholischen Klinikum Bochum gehört.
Prof. Dr. Anke Reinacher-Schick, Direktorin der Abteilung für Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin am St. Josef-Hospital, das zum Katholischen Klinikum Bochum gehört. © Handout | Jakob Studnar

Auch die Zahl der Untersuchungen zur Krebsvorsorge sind rückläufig. 2020 haben laut TK-Daten immerhin noch rund 54 Prozent der Frauen über 20 Jahren in NRW an der Krebsvorsorge teilgenommen (2019: 56 Prozent). 25 Prozent der anspruchsberechtigten Frauen sind zur Mammografie gegangen – 2019 waren es noch knapp 27 Prozent. Zeitweise wurde zu diesen Screenings bundesweit nicht mehr eingeladen.

Krebsvorsorgen bei Männern sind je nach NRW-Landesteil um ein bis zwei Prozentpunkte zurückgegangen. Lediglich Darmspiegelungen haben bei ihnen etwas häufiger stattgefunden. Allerdings ist die Abdeckung hier seit Jahren sehr gering: Nicht einmal drei Prozent der TK-versichterten Männer ab 50 Jahren haben diese Untersuchung in NRW vornehmen lassen.

Ärztin: Stationen kommen an ihre Grenzen

Reinacher-Schick sagt, dass das Aufkommen von Krebspatienten, die nach ihrer Erstdiagnose stationär behandelt werden müssen, derzeit ungewöhnlich sei. Die Station sei an ihre Grenzen gekommen, „weil wir ja unsere bisherigen Patienten weiterhin behandeln und nicht mehr auf andere Stationen ausweichen können“, sagt die Medizinerin am St.-Josef-Hospital, das zum Katholischen Klinikum Bochum gehört. „Das gibt es in anderen Kliniken genauso.“ Am St. Josef-Hospital werden im Schwerpunkt Krebserkrankungen von Bauchspeicheldrüse, Darm, Blase und Lunge behandelt.

Reinacher-Schick berichtet, dass Patienten gerade bei den Erstdiagnosen derzeit häufig stark psychisch belastet seien. „Sie haben oft alles getan, um sich nicht mit Covid zu infizieren und ja, deshalb sind sie auch nicht sofort in eine Praxis gegangen, als Beschwerden auftraten“, beobachtet die Ärztin. Jetzt sei die Entmutigung oft groß.

Chirurg: Langes Zögern hat Folgen für Behandlung

Prof. Dr. Waldemar Uhl leitet Chirurgie und Pankreas-Zentrum am Bochumer St. Josef-Hospital.
Prof. Dr. Waldemar Uhl leitet Chirurgie und Pankreas-Zentrum am Bochumer St. Josef-Hospital. © Andreas Buck / FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Häufig kommen Betroffene so spät in die Klinik, dass Tumore chirurgisch zunächst nicht entfernt werden kann. Das erlebt Prof. Dr. Waldemar Uhl allzu oft. Er leitet die Allgemein- und Viszeralchirurgie samt Zentren für Darmkrebs und Erkrankungen Bauchspeicheldrüse. Uhl berichtet, dass zu ihm in den vergangenen Monaten immer mehr Patienten im fortgeschrittenen, metastasierten Stadium gekommen seien.

In einem Fall sei eine Patientin erst ein Jahr nach einem Befund in der Bauchspeicheldrüse zur Klärung zu ihm gekommen sei. „So ein langes Abwarten kann fatale Folgen haben“, sagt Uhl. „Bei Bauchspeicheldrüsenkrebs zählt jeder Monat. Langes Zögern hat Auswirkungen auf den Behandlungszeitraum und die Prognose.“

Uhl berichtet, dass auch andere Erkrankungen verschleppt worden seien: „Ich habe in diesem Jahr so viele Menschen mit schwersten Entzündungen durch Gallensteine operiert wie noch nie zuvor“, so Uhl.

Uniklinik Düsseldorf: Deutlich weniger Krebsdiagnosen

Auch andere Mediziner gehen davon aus, dass vor allem während der ersten Corona-Welle zahlreiche Krebserkrankungen unentdeckt geblieben sind. Die Uniklinik Düsseldorf verweist auf die Beteiligung an einer Studie, nach der in Hausarztpraxen von März bis Mai 2020 bis zu 28 Prozent weniger Krebsdiagnosen gestellt wurden als im Vorjahreszeitraum. In gynäkologischen Praxen waren es bis zu 32 Prozent weniger. Zu konkreten Auswirkungen äußert sich die Klinik nicht.

Bei den niedergelassenen Onkologen zeigen sich nach Angaben eines Sprechers aktuell nicht auffallend viele fortgeschrittene Stadien. „Das kann ich so nicht bestätigen“, sagt Dr. Karsten Kratz-Albers, Vorsitzender des Berufsverbandes der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen (BNHO) Westfalen-Lippe. Dennoch sieht auch er infolge der ersten Corona-Welle eine noch immer nachwirkende Lücke bei der Diagnostik und der raschen operativen Abklärung: „In dieser Zeit haben deutschlandweit rund 20.000 Darmspiegelungen nicht stattgefunden und wir wissen, dass bei dieser Vorsorge regelhaft Krebsvorstufen und Krebs im Frühstadium erkannt werden.“

2020 haben die niedergelassenen Fachleute indes sogar mehr Krebskranke behandelt. Sie haben viele bereits diagnostizierte Erkrankte übernommen, die wegen der Pandemie nicht stationär behandelt werden konnten, so Albers-Kratz. „Die Therapieversorgung von Krebspatienten ist weitergelaufen.“

Studie aus Großbritannien: Sterblichkeit bei Darmkrebserkrankungen steigt

Die Deutsche Krebsgesellschaft erwartet in etwa zwei Jahren konkrete Daten, inwieweit Krebserkrankungen verzögert oder verspätet diagnostiziert worden sind. Generalsekretär Dr. Johannes Bruns hält aber fest: „Die Versorgung von Menschen mit Krebs wurde in den ersten beiden Corona-Wellen beeinträchtigt.“ So seien onkologisch nicht dringliche Eingriffe teilweise verschoben, diagnostische Untersuchungen und Nachsorge zum Teil zurückgefahren worden.

Fachleute gehen davon aus, dass in Deutschland allein in den wenigen Wochen der ersten Corona-Welle rund 2600 Krebserkrankungen zu spät oder gar nicht erkannt worden sind. In anderen Ländern sind Folgen sichtbar: Studien aus Großbritannien gehen davon aus, dass dort die Sterblichkeit etwa bei Dickdarmkrebserkrankungen um rund 15 Prozent ansteigen werde.

In Bochum richten Uhl und Reinacher-Schick einen Appell an Männer und Frauen: „Gehen Sie zur Vorsorge und suchen Sie bei Beschwerden Ihren Hausarzt auf.“