Essen. NRW-SPD-Chef Thomas Kutschaty wirbt im Live-Interview mit der WAZ für Experimente im Kampf gegen die Pandemie.
SPD-Landtagsfraktionschef Thomas Kutschaty ist nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden die uneingeschränkte Nummer 1 der NRW-SPD. Er soll die Partei in die Landtagswahl 2022 führen. Im WAZ-Live-Interview mit Chefredakteur Andreas Tyrock beantwortete er auch Fragen unserer Leser zum Impfen, Testen und zu sozialen Brennpunkten. Ein Überblick:
Zur Impfstrategie. (Zu diesem Thema fragten unsere Leser Heinz Niehaus, Ulrich Schrotmann und Peter Kluck. Rainer Lessau merkte an, die Landesregierung könne nichts für den Impfstoff-Mangel. Kutschatys Kritik verunsichere die Menschen weiter):
Kutschaty: Es läuft schlecht. Für den Impfstoff-Mangel kann die Landesregierung wenig. Aber die Verteilung ist ein Problem. Mit nur 53 Impfzentren für 18 Millionen Einwohner funktioniert es nicht. Daher ist es richtig, dass wir jetzt auch dezentral impfen, mit mobilen Impfteams und den Hausärzten. Die Terminvergabe muss besser werden. Ich hoffe, dass die Regierung aus en Schwierigkeiten bei der ersten Terminvergabe gelernt hat. In Großbritannien wird in Westminster Abbey geimpft. Warum nicht auch im Kölner oder Aachener Dom?
Zu den geplanten Modellkommunen für Lockerungen:
Kutschaty: Das habe ich schon letzten Sommer gefordert. Man braucht keine Modellversuche in wenigen Kommunen. Das kann man jetzt flächendeckend machen. Die Dänen testen neunmal mehr als wir. Was die können, können wir auch. Mehr Tests ermöglichen mehr Teilhabe. Mit einem negativen Test weiß ich: Innerhalb von 12 bis 24 Stunden kann ich keine weitere Person infizieren. Es sollte zur Regel werden, zu Hause beim Frühstück einen Schnelltest zu machen, bevor jemand in den Schulbus oder die Straßenbahn einsteigt. Viele große Betriebe lassen ihre Mitarbeiter nicht mehr in die Werkshallen ohne negativen Coronatest.
Zu dem, was Kutschaty jetzt entscheiden würde, wenn er Ministerpräsident wäre:
Kutschaty: Im Zusammenhang mit der Krise: Erstens sichere und gute Bildung organisieren. Wir haben uns viel zu lange über Distanz- und Wechselunterricht gestritten. Ich hätte früher für Wechselunterricht entschieden. Zweitens: Allen Familien die Chance geben, Kinder morgens vor dem Weg zur Schule und zur Kita testen zu können. Ich würde die Tests auch für Unternehmen und Betriebe vorschreiben. Und ich würde die Wirtschaftshilfe des Bundes in NRW dort aufstocken, wo Bundesprogramme nicht wirken.
Zum digitalen Kampf gegen die Pandemie:
Kutschaty: Es wäre eine Menge digital möglich. Man könnte einen Selbsttest mit einem QR-Code versehen und mit dieser Information auf dem Smartphone in den Handel, ins Restaurant gehen. Testen und Digitalisierung gehören zusammen. Die Luca-App zur Kontaktnachverfolgung wird in einzelnen Städten in NRW genutzt. Aber das darf nicht von der Initiative einzelner Kaufleute abhängen, da muss die Landesregierung helfen.
Zu Mallorca:
Kutschaty: Ich kann keinem erklären, warum ich nicht mit meiner Familie über Ostern eine Ferienwohnung im Sauerland mieten darf, aber nach Mallorca fliegen kann. Bei den unterschiedlichen Inzidenzen müsste man eigentlich die Mallorquiner vor den deutschen Touristen schützen.
Zur Finanzkrise der Städte im Ruhrgebiet:
Kutschaty: Die Schwierigkeiten nehmen zu. Die Landesregierung hat es zwar den Kommunen ermöglicht, durch Buchungstricks neue Schulden auf 50 Jahre abzuschreiben, aber es sind neue Schulden. Wir brauchen eine „Stunde null“ für die kommunalen Haushalte. Bundesfinanzminister Olaf Scholz ist bereit, bis zu 25 Milliarden Euro dafür auf den Tisch zu legen, wenn die andere Hälfte der kommunalen Altschulden von den Ländern übernommen wird. NRW sollte sich da deutlich mehr engagieren, denn kein anderes Land würde mehr von den Bundesmitteln profitieren. Da geht es nicht um abstrakte Zahlen, sondern um den Zustand der Spielplätze, Schulen und Straßen.
Zum Zustand der NRW-SPD:
Kutschaty: Die Umfragewerte sind mies für uns. Die SPD muss wieder mehr Anwältin für Menschen sein, die Hilfe brauchen. Die Postleitzahl sagt manchmal mehr über Bildungs- und Berufschancen eines Kindes aus als Fleiß und Talent. Wir müssen uns darum kümmern, dass aus Hoffnung wieder Wirklichkeit wird. Und wir müssen Zukunftsperspektiven aufzeigen, damit die Leute sagen: ,Die SPD isset‘. Unsere Themen sind gute Bildungschancen für jedes Kind, gute und sichere Arbeit, gutes und bezahlbares Wohnen und Gesundheitsvorsorge. Die Krankenhauspläne der Landesregierung lassen ein Grauen erwarten. Ich bin für eine flächendeckende Krankenhausversorgung. Ein leeres Krankenhausbett ist kein Skandal, sondern ein Sicherheitspuffer.
Zu Zukunftschancen von Kindern (Michael Dreckmann aus Duisburg kritisierte Kutschatys Standpunkt, jedes Kind solle studieren können, und fragte: „Brauchen wir nicht auch Handwerker und Industriearbeiter und nicht nur Germanisten und Psychologen?“):
Kutschaty: Völlig richtig. Jedes Kind soll das werden können, was es werden möchte. Eine gute Gesellen- oder Meisterprüfung macht einen mindestens so glücklich wie ein Hochschulabschluss. Aber wer möchte, soll die Chance auf ein Studium bekommen.
Zu sozialen Brennpunkten (Udo Ummerlee fragte, wie Kutschaty soziale Brennpunkte wie Duisburg-Marxloh entschärfen will):
Kutschaty: Die Stadtplanung ist schiefgelaufen. Bezahlbare Wohnungen müssen flächendeckend in einer Stadt vorhanden sein. Recht, Sicherheit und Ordnung müssen in allen Stadtteilen gelten. Und die Kinder in sozialen Brennpunkten müssen gute Chancen haben. Ich möchte, dass in solchen Stadtteilen die schönsten und modernsten Schulen stehen, mit kleineren Klassen und mehr Sozialarbeitern.
Zur politischen "Ampel":
Kutschaty: Die Wahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg zeigen: Es sind Mehrheiten diesseits der Union möglich. Für ein solches Bündnis werbe ich in NRW. Ich kann mir gut Dreierbündnisse vorstellen und würde gern ein solches Dreierbündnis anführen. Eine Zusammenarbeit mit der FDP kann ich mir sehr gut vorstellen. Da gibt es viele Schnittmengen.