Essen. Die frühe Aufteilung in drei Schulformen kommt im Zeitalter der Digitalisierung an die Grenzen. Altmodisch! Ist das dreigliedrige System am Ende?
Hauptschule, Realschule, Gymnasium – so ist es seit mehr als hundert Jahren. Auf diese drei Schulformen werden die Kinder je nach ihren erkannten Talenten sortiert. Die Hauptschule für die angeblich praktisch Begabten, die Realschule für eher theoretisch-praktisch talentierten Kinder, also für spätere Facharbeiter, Techniker, Verwaltungskräfte. Und das Gymnasium bildet den akademischen Nachwuchs aus. Es ist ein Schulsystem, das in dieser Form weltweit beinahe einzigartig ist.
Außerhalb des deutschen Sprachraums ist die Aufteilung in drei – oder auch mehr – unterschiedlich anspruchsvolle Bildungsgänge direkt nach der Grundschule nirgendwo zu finden. Es hat seinen Ursprung im Ständestaat des 18. Jahrhunderts und entsprach den Erfordernissen der technischen Industrialisierung: Volksschulen für das Proletariat, Realschulen für das aufstrebende Bürgertum und Gymnasien für die Eliten, schreibt der Dortmunder Bildungswissenschaftler Ernst Rösner. Ist ein solches Schulsystem noch zeitgemäß? Ist es in Zeiten der Digitalisierung sinnvoll, die Schüler so früh zu sortieren? Kann man „Begabungstypen“ überhaupt zielsicher identifizieren?
Das Schulsystem der Weimarer Republik
Vor fast genau 100 Jahren rief das preußische Innenministerium namhafte Bildungsexperten zur großen „Reichsschulkonferenz“ in Berlin zusammen. Eingeladen waren 650 Experten, darunter viele Vertreter der Reformpädagogik. Wie sollte es aussehen, das Schulsystem der Weimarer Republik? Braucht die erste Demokratie auf deutschem Boden nicht eine kostenlose Schule für alle? Die Forderung nach der „Einheitsschule“ stand im Raum.
Fast sämtliche bildungspolitischen und pädagogischen Streitpunkte, die uns bis heute beschäftigen, wurden schon damals vorgetragen. So war einer der Hauptstreitpunkte, ob es eine gemeinsame Grundschulzeit geben sollte und ob sie vier oder sechs Jahre dauern sollte. Die Reformer scheiterten, die Parteien schlossen den berühmten „Schulfrieden“, der im Grunde bis heute gilt. Das Gymnasium blieb, die „Einheitsschule“ wurde beerdigt.
Alliierte wollten Gesamtschulsystem in Deutschland
Als die Alliierten nach dem zweiten Weltkrieg zur Demokratisierung der Deutschen ein Schulsystem bestehend aus nur den beiden aufeinanderfolgenden Stufen „Volksschule“ und „Höhere Schule“ etablieren wollten, scheiterte die Einheitsschul-Idee ein zweites Mal.
US-Bildungsexperten kritisierten, dass Kinder in Deutschland bereits nach vier Schuljahren aufgeteilt wurden. Das führe bei einer kleine Gruppe zu einem Elitestatus und bei der Mehrheit zu Minderwertigkeitsgefühlen. Das sei einem demokratischen Neustart nicht förderlich. Daher verordnete der Alliierte Kontrollrat auf amerikanische Initiative 1947 den Deutschen ein Gesamtschulsystem. Diese Vorschrift scheiterte indes am ebenso hartnäckigen wie hinhaltenden Widerstand von konservativen Kreisen, Parteien und der katholischen Kirche – Trägerin zahlreicher privater Gymnasien.
Soziale Herkunft bestimmt Bildungserfolg
Heute liefern die jüngsten Pisa-Ergebnisse erneut einen Anlass, über das deutsche Schulsystem zu diskutieren. Stärker als in anderen Ländern bestimmt in Deutschland die soziale Herkunft den Bildungserfolg der Kinder. Die Unterschiede zwischen dem Gymnasium und anderen Schulformen haben sich sogar verschärft. Beim Lesen schnitten die Gymnasialschüler um 120 Punkte besser ab als ihre Altersgenossen in anderen Schulformen. Bei der Pisa-Studie 2015 lag der Vorsprung noch bei 102 Punkten. Der Anteil der leseschwachen Jugendlichen ist außerhalb der Gymnasien von 21 auf 29 Prozent gestiegen. An Gymnasien blieb er hingegen mit zwei Prozent kaum messbar gering. Bildungsexperten sehen in diesen Daten einen „Weckruf“ für die Politik.
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Denn die Kluft zwischen den Schulformen wird offenbar größer. Das scheint indes nicht daran zu liegen, dass das Bildungssystem stärker nach Herkunft aussieben würde als zuvor. An Gymnasien lernen zwar deutlich weniger Kinder aus Zuwanderer- oder Hartz-IV-Familien als an anderen Schulen. Die Unterschiede sind weiterhin groß, aber seit 2012 insgesamt nicht signifikant gewachsen.
Die Kluft zwischen den Schulsystemen wächst
Das zeigte der jüngste IQB-Ländervergleich unter Neuntklässlern aus dem Jahr 2018, eine Art innerdeutsches Pisa. Dort heißt es: „In Deutschland insgesamt haben sich also die sozialen Disparitäten weder im Fach Mathematik noch in den naturwissenschaftlichen Fächern signifikant verändert.“ Mit anderen Worten: Nichts ist zwischen der IQB-Studie 2012 und der im Jahre 2018 besser geworden. Das Bildungssystem wirkt weiterhin selektiv.
NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) zeigte sich mit den Ergebnissen gleichwohl insgesamt zufrieden: „Nordrhein-Westfalen steigt auf. Wir sind in allen Bereichen besser geworden.“ Doch die soziale Kluft konnte auch sie nicht übersehen. Die Studie ergab, dass nach wie vor Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund und aus bildungsferneren Elternhäusern schlechter abschneiden als Kinder und Jugendliche aus bildungsnahen Elternhäusern. „Hier müssen wir weiter an einer größeren Chancengerechtigkeit arbeiten“, sagte Gebauer.
Testballon „Talentschule“
Zu diesem Zweck erfand die Landesregierung den Schulversuch „Talentschulen“. Mit landesweit 60 besonders geförderten Schulen in sozial benachteiligten Stadtvierteln sollen Methoden und Maßnahmen gegen die Chancenungleichheit erprobt werden.
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Legt man die Ergebnisse der Pisa- und der IQB-Studie nebeneinander, so zeigt sich, dass das Bildungssystem zwischen 2012 und 2018 zwar nicht stärker nach der Herkunft aussortiert, aber dass zugleich die Leistungen der Schüler weiter auseinanderdriften. Die Schlussfolgerung liegt daher nahe, dass die Bedingungen außerhalb des Gymnasiums offensichtlich schwieriger geworden sind.
Lehrer und Gewerkschaften fordern mehr Mittel für Brennpunktschulen
Genau darauf weisen Bildungsgewerkschaften und Schulleiter in NRW mit wachsendem Nachdruck hin. Sie kritisieren die „Talentschulen“ als einige wenige Leuchttürme in einer ansonsten maroden Schullandschaft und fordern eine breite Unterstützung für alle Schulen, die besondere soziale Herausforderungen meistern müssen. Ihre Forderung: Ungleiches muss ungleich behandelt werden.
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Es geht um Schulen in sozial schwierigen Quartieren, von denen viele baufällig sind. Laut der Bildungsgewerkschaft GEW gibt es NRW nicht 60, sondern 800 bis 1000 Schulen, darunter etwa die Hälfte Grundschulen, in besonders benachteiligten Stadtvierteln. „Armut kennzeichnet den Alltag vieler Kinder dort, an manchen Schulen sprechen 80 Prozent der Kinder zu Hause kein Deutsch. In den oft zu großen Klassen an den Gesamt- und Sekundarschulen sitzen bis zu drei Kinder mit besonderem Förderbedarf“, schildert eine Schulleiterin die Lage.
Neue Lehrkräfte meiden Schulen in schwieriger Lage
Der NRW-Gesamtschulverband GGG fordert einen „schulscharfen Sozialindex“, der mehr Geld, Personal und Ausstattung in besonders bedürftige Schulen lenkt. Zudem finden „Brennpunktschulen“ häufig keine geeigneten Lehrkräfte, um ihre offenen Stellen zu besetzen, während das Gymnasium kaum Probleme hat, gute Lehrerinnen und Lehrer zu finden.
All dies vergrößert die Differenz zwischen den Schulformen, was sich offensichtlich in den Leistungen der Schüler widerspiegelt.
Experten rütteln am bildungspolitischen Tabu
Immer heftiger rütteln Pädagogen und Bildungsexperten daher an dem bildungspolitischen Tabu des dreigliedrigen Schulsystems. Die Frage lautet: Wäre es nicht gerechter, sämtliche Ressourcen in einer Schule für alle zu bündeln und somit zumindest die Voraussetzungen für einen Lernerfolg anzugleichen? Kleinteilige Reformen würden nach Ansicht der GEW die Misere nicht beseitigen. Über das gegliederte Schulsystem müsse wieder grundlegend diskutiert werden.
Wissenschaftlich ist es kaum umstritten, dass man Grundschulkinder nicht in Begabungstypen einteilen und auf entsprechende Schulformen verteilen kann. Als im 18. Jahrhundert die ersten Realschulen gegründet wurden, war nicht etwa plötzlich ein neuer Begabungstyp unter den Kindern entdeckt worden, schreibt Bildungsforscher Ernst Rösner. „Das war vielmehr ein rationaler Akt. Weder für die steigenden technischen Anforderungen, die die Industrielaisierung mit sich brachte, noch für den wachsenden internationalen Warenaustausch kam geeigneter Nachwuchs aus Volksschulen oder Lateinschulen.“ Mit der Gründung der Realschulen „fügte sich das Schulsystem vorzüglich in das Ständewesen der frühen Industrialisierung.“ (Ernst Rösner, „Hauptschulen am Ende“, 2007). Mit speziellen Begabungen hatte das also wenig zu tun, sondern mit wirtschaftlichen Erfordernissen.
Aufteilung nach Begabungstypen wissenschaftlich umstritten
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„Dass sich in Deutschland der wissenschaftliche Unfug der Begabungstypen bis heute behaupten konnte, gehört zu den erstaunlichsten Ausprägungsformen der Modernisierungs-Resistenz“, so Rösner. Kein Erziehungswissenschaftler würde heute noch das dreigliedrige Schulsystem mit der angeblichen Existenz verschiedener Begabungstypen rechtfertigen und damit seinen guten Ruf aufs Spiel setzen. „Weder die empirische Begabungsforschung noch die pädagogische Theoriebildung können die Begabungsthese stützen“, resümiert der Forscher.
Rösner zitiert Elisabeth Stern, die als Psychologin am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung gleichsam einen Schlussstrich unter die Ideologie des begabungsgerechten dreigliedrigen Schulsystems gezogen habe, als sie in einem Interview feststellte: „Es gibt keine wissenschaftlichen Argumente für unser dreigliedriges Schulsystem. Wir bräuchten stattdessen mehr Gemeinschaftsschulen ohne Klassenverbände in einem Ganztagsangebot.“
Erzwingt die Digitalisierung eine Schulreform?
Wird erneut eine technische Revolution das Schulsystem reformieren, wie es einst bei der Gründung der Realschule geschah? Im Zeitalter der fortschreitenden Digitalisierung der Arbeits- und Lebenswelt erscheint ein Bildungssystem, das nach den Prinzipien des traditionellen Ständewesens organisiert ist, zunehmend fragwürdig. Sollten die Schulformen bislang etwa vermeintlich praktisch begabte Kinder auf den Handwerkerberuf oder theoretisch gebildete zur Universität führen, müssen Schulen und Hochschulen heute die Jugend auf Anforderungen und Berufe vorbereiten, die es womöglich noch gar nicht gibt.
Experte: Deutsches Schulmodell „größtes Freilichtmuseum der Welt“
Lebenslanges Lernen, Fortbildung, Flexibilität, schnelle und zielgerichtete Aneignung von Wissen sowie Problemlösungsfähigkeit sind wichtiger denn je. Standardisiertes und abrufbares Wissen bleibt zwar nötig, reicht aber nicht mehr aus. Schule muss in Zeiten rasch wechselnder Anforderungen mehr zu einer Anstalt für Charakterbildung und Talentförderung werden und die Schüler befähigen sich selbstständig neues Wissen anzueignen. Das bedeutet individuelle Förderung und nicht die schematische Einteilung in Schultypen.
Doch Deutschland beharre im Gegensatz zu seinen Nachbarstaaten auf einem Schulsystem, „das wissenschaftlich unbegründbar, leistungsschwach und zu allem Überfluss auch hochgradig sozial selektiv ist.“ Rösner nennt das deutsche Schulmodell daher „das größte Freilichtmuseum der Welt“.
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