Düsseldorf. Die ganze Welt wird digitaler, nur die Schule nicht. Eine internationale Vergleichsstudie zeigt: NRW ist im Schulunterricht eine digitale Wüste.
In einer internationalen Vergleichsstudie zu Computer-Kompetenzen von Schülern in der 8. Klasse erreichen in NRW nur Gymnasiasten ordentliche Platzierungen. In allen anderen weiterführenden Schulformen ist die Zahl der Achtklässler, die fast keine relevanten IT-Kenntnisse besitzen, mit 50 Prozent „alarmierend hoch“, sagen Bildungsforscher, die sich an der so genannten ICILS-Studie beteiligt hatten. Insgesamt besaßen mehr als ein Drittel dieser Mittelstufenschüler im Jahr 2018 nur „sehr einfache“ PC-Anwendungsfertigkeiten. Sie waren gerade einmal in der Lage, einen Link anzuklicken oder eine E-Mail zu öffnen, so die Verfasser.
Erheblich bessere IT-Kenntnisse haben zum Beispiel Schüler in Kasachstan, Uruguay, Chile und Italien. International „weit unterdurchschnittlich“ ist auch die Ausstattung der Schulen mit Computern und anderen digitalen Geräten. In NRW teilen sich im Schnitt 13 Schüler ein digitales Gerät (Computer, Laptop, Tablet), in den USA teilen sich zwei Schüler ein Gerät, in Finnland drei. Nicht einmal ein Prozent der Achtklässler in NRW lernt an einer Schule, in der jedem Lehrer ein von der Schule bereitgestellter Computer zur Verfügung steht. Bundesweit trifft dies auf 3,2 Prozent der Schüler zu, Spitzenreiter Dänemark erreicht 91 Prozent.
Digitalisierung spielt in der Aus- und Weiterbildung kaum eine Rolle
Auch die anderen Ergebnisse der Studie sind Besorgnis erregend. Nur wenige Lehrer halten in NRW die digitale Ausstattung ihres Arbeitsplatzes für gut, wenige wurden im Studium angemessen auf den Einsatz digitaler Medien im Unterricht vorbereitet, und die Bereitschaft, sich diese Kompetenzen über Weiterbildungsangebote anzueignen, scheint nicht besonders ausgeprägt zu sein.
NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) erkennt „großen Handlungsbedarf“ und machte am Dienstag die rot-grüne Vorgängerregierung für das schlechte Abschneiden des Landes verantwortlich. SPD und Grüne hätten „den digitalen Wandel völlig verschlafen“. NRW investiere in den kommenden Jahren sechs Milliarden Euro in die zeitgemäße Ausstattung der Schulen. Der Digitalpakt des Bundes mit den Ländern bringe den Schulen in NRW eine weitere Milliarde Euro. Die von der Uni Paderborn national erfassten Ergebnisse der Studie sind für NRW besonders aussagefähig, weil sich hier viel mehr Schulen beteiligt hatten als in den anderen Ländern.
Praktisch kein Fortschritt seit 2013
Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) ist entsetzt, dass Schüler in ganz Deutschland heute kaum bessere IT-Kenntnisse haben als bei der letzten Studie im Jahr 2013. Das Institut der deutschen Wirtschaft forderte, Informatik zum Pflichtfach zu machen. Deutsche Schüler benötigten hier dringend „Nachhilfe“.
Die ganze Welt wird digitaler, nur die Schule widersetzt sich bisher offensichtlich diesem Trend. In NRW und in ganz Deutschland erreichen Schüler der achten Klassen im Schnitt nur mittlere IT-Kompetenzwerte. Dieser Platz im Mittelfeld ist auch nur möglich, weil die Gymnasien hier so viel besser abschneiden als beispielsweise Haupt- und Realschulen. Für einen großen Teil der Mittelstufenschüler sind Computer wohl allenfalls Spiel-, aber keine Arbeitsgeräte.
Was wurde untersucht?
Mit der Studie ICILS 2018 wurden nach 2013 zum zweiten Mal international die computer- und informationsbezogenen Kenntnisse von Achtklässlern untersucht. Nur für NRW liegt auch eine bundeslandspezifische Auswertung vor. In NRW wurden an 110 Schulen fast 2000 Schüler getestet und rund 1500 Lehrer befragt. In Deutschland wurde die Studie von Prof. Birgit Eickelmann (Uni Paderborn) geleitet. Namhafte Bildungsforscher wie Prof. Wilfried Bos (TU Dortmund) waren beteiligt. Vergleichsdaten aus einem Dutzend Staaten liegen vor.
Wie schnitt NRW ab?
Schlecht, jedenfalls viele Schüler, die nicht in Gymnasien lernen. Nur 1,8 Prozent der Achtklässler sind wirklich fit am Computer. Sie können „selbstständig ermittelte Informationen sicher bewerten, organisieren und selbst anspruchsvolle Informationen an PC, Laptop oder Tablet erstellen“. Mehr als ein Drittel und damit „ein besorgniserregend hoher Anteil“ dieser Kinder erreicht nur untere Kompetenzstufen. Ebenfalls schlimm: Kinder aus ärmeren Familien schneiden deutlich schlechter ab als andere.
Wie bewerten Lehrer die digitale Ausstattung?
Nur ein Drittel von ihnen meint, ihre Schule sei digital gut ausgestattet. Etwa ein Viertel berichtet von einer guten Internetanbindung. Unter den untersuchten Ländern wird nur Uruguay bei der Internetanbindung von Schulen ähnlich schlecht eingeschätzt. In allen anderen Staaten ist dieser Wert besser. Nur ein Drittel der in NRW befragten Lehrer sagt, der Einsatz digitaler Medien habe an ihrer Schule Priorität.
Wie steht es um die digitalen Kompetenzen der Lehrer?
Eher schlecht. Nicht einmal jeder Vierte erklärt, die Nutzung digitaler Medien sei Bestandteil seiner Lehrerausbildung gewesen. Im EU-Schnitt sind es immerhin 33 Prozent. Nur 22 Prozent der befragten Lehrer in NRW geben an, in den zwei Jahren vor der Befragung an einer entsprechenden Fortbildung teilgenommen zu haben.
Wie reagiert die Politik?
Die Bildungspolitiker sprechen von großen Aufgaben im Bereich der digitalen Bildung, sehen Deutschland aber auf einem guten Weg. NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) spricht von „großem Handlungsbedarf“. Diese Weichen seien in NRW bereits gestellt. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) sagte: „Die Studie weist darauf hin, dass wir an mehreren Stellschrauben gleichzeitig ansetzen müssen.“ Neben einer besseren Ausstattung der Schulen seien die Qualifizierung der Lehrkräfte sowie die passenden Unterrichtsinhalte wichtig. Der „Digitalpakt Schule“ sei ein wichtiger Schritt.
Was sagen Verbände und Wissenschaft?
Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) nannte das schlechtere Abschneiden benachteiligter Jugendlicher „verheerend“. Die Studie zeige „signifikante Unterschiede zwischen Schulformen, der sozioökonomischen Herkunft und einem Migrationshintergrund“, betonte VBE-Vorsitzender Udo Beckmann. Diese Koppelung von sozialer Herkunft und Kompetenzen habe sich seit der letzten ICILS-Studie 2013 nicht verbessert. „Das ist ein verheerendes Ergebnis“, so Beckmann. Dafür trage die Politik die Verantwortung.
VBE-Landesvorsitzender Stefan Behlau ergänzte: „In der Praxis ist es für Lehrkräfte unheimlich frustrierend, beste Bildung ermöglichen zu wollen, aber weder die Technik noch die nötige Fortbildung oder die Konzepte dafür zur Verfügung zu haben.“
Auch die Leiterin der Studie, Birgit Eickelmann, hob den sozialen Aspekt hervor: „Dass der Geldbeutel der Eltern entscheidet, ob man in der digitalen Welt mithalten kann oder nicht, ob man einen Arbeitsplatz findet, ob man merkt, was im Internet Propaganda ist und was nicht – da hat man Sorge, was die Stabilität der Gesellschaft angeht.“ Schule ignoriere die Lebenswelt der Schüler, die in einer von digitalen Medien geprägten Welt aufwachsen, sagte sie der „Zeit“.
Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) forderte ein Pflichtfach Informatik. Digitale Kompetenzen seien so wichtig wie nie zuvor. „Die Wirtschaft braucht dringend IT-Fachkräfte“, sagte IW-Forscher Prof. Axel Plünnecke. „Die Engpässe in IT-Berufen haben sich deutlich erhöht.“
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