Bochum. 13 Jahre war ein vorbestrafter Pfarrer in der Wattenscheider St.-Joseph-Gemeinde tätig. Deren Gemeinderat wirft dem Bistum Essen Vertuschung vor.
Enttäuschung und Wut. Diese beiden Begriffe fallen immer wieder nach dem Gottesdienst am Sonntagmorgen in der Wattenscheider St.-Joseph-Gemeinde. Mehr als 150 Gemeindemitglieder sind gekommen, doppelt so viele wie sonst an einem gewöhnlichen Sonntag. Sie wollen die Wahrheit darüber erfahren, warum ein Priester im Ruhestand von 2002 bis 2015 in der Gemeinde tätig sein konnte, obwohl er zweimal wegen sexuellen Kindesmissbrauch strafrechtlich verurteilt worden war.
“Das Bistum hat uns belogen.“ Davon ist nicht nur Pia Scholz überzeugt, die im Gottesdienst eine Erklärung des Gemeinderats vorliest (Wortlaut am Ende des Textes), in der es unmissverständlich heißt: „Das Ausmaß der Vertuschung und der Umgang mit den Missbrauchsfällen machen uns fassungslos.“ Auch eine andere Frau, die vor das Mikrofon tritt, erhebt schwere Vorwürfe gegen die Kirchenoberen in Essen. „Das Bistum hat meiner Meinung nach damals alles gewusst. Wir sind belogen worden“, sagt sie.
„Vorfall mit einem minderjährigen Prostituierten“
Damals, das war 2002, kurz nachdem der pensionierte Ruhestandsgeistliche nach Wattenscheid gekommen ist. „Wir hatten durch Zufall erfahren, dass mal was passiert ist“, erzählt die Frau, die zu diesem Zeitpunkt Mitglied des Pastoralteams war. In Gesprächen habe das Bistum zugegeben, „dass es 1988 einen Vorfall mit einem minderjährigen Prostituierten gegeben hat. Weitere Informationen hatten wir damals nicht.“
Von der ersten Vorstrafe aus dem Jahr 1972 habe man nichts erfahren. Der Geistliche habe freiwillig nicht gehen, das Bistum ihn nicht versetzen wollen .„Wir haben uns dann dagegen entschieden, an die Öffentlichkeit zu gehen, aber trotzdem intensiv ans Bistum geschrieben“, sagt die Frau, die anschließend ihre Arbeit in der Gemeinde eingestellt hat und aus der Katholischen Kirche ausgetreten ist. „Heute geht es mir besser“, sagt sie im Gespräch mit dieser Zeitung. Zugleich ist ihr anzumerken, dass ihr der Fall von damals und der Zwiespalt, in dem sie und ihre Mitstreiter standen, noch heute nahe gehen. „Wie die anderen Mitglieder des Pastoralteams von damals damit umgehen, will ich nicht beurteilen. Aber mir war es wichtig, heute dazu Stellung zu nehmen.“ Ihren Mut, an die Öffentlichkeit zu gehen, quittiert die Gemeinde mit Applaus.
Gemeinde applaudiert
Vorwürfe in ihre Richtung macht der heutige Gemeinderat nicht. „Ich denke, das Pastoralteam war damals einem gewissen Druck ausgesetzt“, sagt Pia Scholz. Sie sei immer noch fassungslos darüber, dass auch heute in der Erklärung des Bistums, die zu Beginn der Messe vorgelesen wurde, nichts davon zu lesen ist, wieviel in Essen über die Vorgeschichte des betreffenden Geistlichen bekannt war. Sie sei wütend und enttäuscht. „Eigentlich müsste man aus diesem Laden austreten. Aber mir würde die Gemeinschaft fehlen.“
Von Enttäuschung sprechen viele an diesem Morgen. Frank Dötze hat 13 Jahre lang mit seiner Familie Tür an Tür mit dem vorbestraften, heute 86-jährigen Priester gelebt, der mittlerweile in einem Seniorenheim wohnt. „Wir haben ihn als Mensch und Zuhörer und Seelsorger geschätzt,“ sagt er. „Und wir sind enttäuscht und entsetzt darüber, jetzt von dieser anderen Seite zu erfahren.“
Riss in der Kirche wird größer
Kein Blatt vor den Mund nimmt auch Pfarrer Klaus Reiermann in seiner Predigt. „Ein zweimal wegen Missbrauchs verurteilter Priester gehört nicht mehr in eine Gemeinde“, sagt er. Stillschweigendes Dulden von tausendfachem Missbrauch, wie er vorgekommen sei, und Vertuschen sorge dafür, „dass der Riss zwischen der Kirche, wie sie ist und wie wir sie uns wünschen, immer größer wird“.
Seine Kritik richtet sich an Konservative in der Bischofskonferenz und in Rom, die jede noch so kleine Reform für unvereinbar mit der Lehre der Kirche erklärten. Aber: „Auch hier in St. Joseph ist in diesem Fall nicht alles gut und richtig und transparent verlaufen.“
Propst kündigt Info-Abend an
Nur Offenheit, so scheinen alle Beteiligten zu glauben, könne noch helfen. „Der Schutz der Institution darf nicht länger über den Interessen der Opfer stehen“, heißt es in der Erklärung des Gemeinderats. Propst Werner Plantzen kündigt an, das Bistum werde zu einer Informationsveranstaltung laden, zu der es in zwei Wochen in Wattenscheid kommen soll. Es folgt damit dem Beispiel benachbarter Bistümer, die in ebenfalls betroffenen Gemeinden solche Treffen anberaumt haben.
Am Ende des Gottesdienst tauscht sich der Propst mit dem einen oder anderen Gemeindemitglied über den Fall aus, der die gesamte Gemeinde aus dem Gleichgewicht zu bringen droht. Er hofft wie auch Pfarrer Reiermann, dass die Kirche die richtigen Schlüsse aus diesem Fall zieht.
Keine organisierte Aussprache
Pia Scholz bedauert derweil, dass es nach dem Gottesdienst nicht zu einer organisierten Aussprache gekommen ist. Normalerweise gebe es an jedem dritten Sonntagmorgen nach der Messe ein Beisammensein im Gemeindehaus. Diesmal nicht.
Derweil verlässt eine andere Frau an der Seite einer Begleiterin das Gotteshaus und sagt: „Solche Sachen hat es wahrscheinlich schon immer gegeben. Nur ist davon nie etwas nach außen gedrungen.“
Information des Bistums an die Gemeinde St.-Joseph
„Liebe Gemeindemitglieder!
In der vergangenen Woche haben Sie sicher über die Medien mitbekommen, dass über Missbrauchsfälle eines Priesters des Erzbistums Köln berichtet worden ist.
Bei diesem Priester handelt sich um den sicher von vielen von Ihnen noch bekannt Pastor A. Er hat in der Zeit von 2002 bis 2015 in unserer Gemeinde gewohnt, nachdem er vom Erzbistum Köln mit 65 Jahren in den Ruhestand versetzt worden war. Vor seinem Wohnsitzwechsel nach Wattenscheid war Pastor A. im Erzbistum Köln und im Bistum Münster tätig. In den 1970er und 1980er Jahren ist er wegen sexuellen Kindesmissbrauchs strafrechtlich verurteilt worden.
Nachdem ein Betroffener im Mai 2019 im Bistum Münster auf die Vorgeschichte von Pastor A. aufmerksam gemacht hatte, haben alle drei Bistümer die jeweils bei ihnen vorhandenen Informationen ausgetauscht. Das Erzbistum Köln hat daraufhin eine Anwaltskanzlei in München beauftragt, sämtliche Personalunterlagen der drei Bistümer auszuwerten. Diese Kanzlei ist seit Anfang 2019 beauftragt, alle Fälle von sexuellem Missbrauch im Bereich des Erzbistums Köln zu untersuchen. Dabei soll auch herausgearbeitet werden, wer von den Verantwortlichen der Bistümer worüber informiert war und welche Entscheidungen getroffen hat. Diese Ergebnisse sollen im Frühjahr 2020 der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Inzwischen hat das Erzbistum Köln das bisher nicht erfolgte kirchenrechtliche Strafverfahren eingeleitet und ein vollständiges Zelebrationsverbot ausgesprochen. Pastor A. lebt heute im Alter von 86 Jahren in einer Senioreneinrichtung.
Das Bistum Essen ist wie auch die anderen Bistümer um die vollständige und rückhaltlose Aufklärung des Falles bemüht. Deswegen bitten wir alle, die dazu beitragen können, uns ihre Informationen und Hinweise zur Verfügung zu stellen.
Auch wenn wir bisher keine Anhaltspunkte dafür haben, ist es nicht auszuschließen, dass Pastor A. in der Zeit, in der er hier in der Gemeinde wirkte, mögliche Taten oder Grenzverletzungen begangen hat. Deshalb bitte wir insbesondere diejenigen, denen das widerfahren sein sollte, sich bei der Missbrauchsbeauftragten des Bistums Essen, Frau Angelika von Schenk-Wilms, oder ihrem Stellvertreter, Herrn Karl Sarholz, zu melden. Auch bitten wir alle, die über mögliche Taten Kenntnis haben, aber nicht selbst betroffen sind, Kontakt mit den zuständigen Stellen aufzunehmen.“
Erklärung des Gemeinderats
„Die meisten von Ihnen werden es durch die mediale Berichterstattung oder direkt über die Webseite des Bistums Essen erfahren haben: Am vergangenen Dienstag veröffentlichte das Bistum Essen eine Pressemitteilung, in der über einen Priester informiert wurde, der trotz zweier Verurteilungen wegen sexuellen Missbrauchs weiterhin in verschiedenen katholischen Gemeinden und Einrichtungen in den Bistümern Köln, Münster und Essen eingesetzt wurde. Zu diesen Stationen gehörte auch von 2002 bis 2015 unsere Gemeinde St. Joseph.
Obwohl im Bistum Essen die Vorgeschichte von N. A. (Hinweis der Redaktion: der Name des Priester wird in der Erklärung genannt) bekannt war, wurde der damalige Pfarrer Wiederhold nicht darüber informiert. Erst als ein Gemeindemitglied durch Zufall von der Vorstrafe wegen sexuellen Missbrauchs erfuhr und dies sowohl dem Bistum als auch Pfarrer Wiederhold mitteilte, kam es zu einem Gespräch mit Vertretern des Bistums und dem Pastoralteam der Gemeinde. In diesem Gespräch wurde Stillschweigen vereinbart, da laut einem forensischen Gutachten von dem Priester keine Gefahr mehr ausging. Die große Besorgnis derer, die von der Vorgeschichte wussten und die ihre Sorge mündlich und schriftlich deutlich gemacht haben, wurde im Bistum ignoriert.
Das Ausmaß der Vertuschung und der Umgang mit den Missbrauchsfällen machen uns fassungslos!
Ein Priester mit dieser Vorgeschichte hätte niemals wieder in der Seelsorge eingesetzt werden dürfen.“
Unser Mitgefühl gilt vor allem den Opfern dieser Taten, wie auch allen anderen Opfern von Missbrauch durch katholische Priester. Sie wurden doppelt verletzt, zum einen durch den Missbrauch selbst, zum anderen aber auch dadurch, dass die Täter weiter in Amt und Würden bleiben konnten.
Auch in unserer Gemeinde entstehen nun Verletzungen: Viele von uns haben N. A. als guten Seelsorger, weisen Ratgeber und Freund geschätzt. Dieses Bild mit dem einen pädophilen Straftäters zusammenzubringen fällt schwer. Wir sind enttäuscht, traurig und wütend!
In der Vergangenheit sind viele schwere Fehler gemacht worden, die sich heute nicht mehr korrigieren lassen.
Für die Zukunft fordern wir Transparenz im Umgang mit Missbrauchsfällen.
Katholische Gläubige wie wir erwarten zu Recht, das pädophile Priester keinen seelsorgerischen Dienst mehr ausüben dürfen.
Der Schutz der Institution darf nicht länger über den Interessen der Opfer stehen.