Düsseldorf. Seit zweieinhalb Jahren sind Ministerpräsident Laschet und sein Kabinett am Ruder. Amtsverständnis, Aufbruch, Handwerk – eine Zwischenbilanz.

Der mit weltlichen und anderen Ämtern bestens vertraute Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner hat 2013 bei einem seiner seltenen Düsseldorf-Besuche der Nachwelt eine hübsche Definition von Erfolg hinterlassen. Wichtig sei vor allem „die Gnade“ nicht allzu großer Fußstapfen, in die man trete: „Es geht nichts über einen schlechten Vorgänger.“

Wenn man sich zur Mitte der aktuellen Legislaturperiode in Nordrhein-Westfalen die schwarz-gelbe Landesregierung ansieht und versucht, so etwas wie eine Halbzeitbilanz zu ziehen, kommt einem Meisner in den Sinn. Die Koalition von CDU-Ministerpräsident Armin Laschet zehrt auch nach zweieinhalb Jahren noch immer ganz gut davon, dass die rot-grüne Vorgängerregierung 2017 in beispielloser Härte von den Wählern aus dem Amt gejagt wurde. Was auch immer Laschets Kabinett tut oder versäumt – es geschieht vor der trüben Folie der anderen. Vor den Endlos-Skandalen in der Ägide der rot-grünen Innenpolitik. Der Realitätsverweigerung bei „Turbo-Abitur“ und „Inklusion“ in der rot-grünen Schulpolitik. Der bürokratischen Selbstfesselung und lähmenden „Schlusslicht-Debatte“ in der rot-grünen Standortpolitik. Der gereizten Lustlosigkeit der späten SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft.

Innere Sicherheit, Schule, Verkehr - eine neue Erzählung musste her

Wie bei der Übernahme eines maroden Unternehmens haben sich CDU und FDP zunächst darauf konzentriert, eine neue „Story“ über den Konzern NRW zu erzählen. Die Wahrnehmung eines politischen Neuanfangs musste her. Die NRW-Polizei erhielt in kurzer Zeit mehr Personal, Material und Befugnisse. Vor allem stimmte Innenminister Herbert Reul (CDU) den Apparat mit öffentlichkeitswirksamen Razzien auf eine neue „Null-Toleranz-Linie“ ein. Nach all den erbitterten Rückzugsgefechten seines kriselnden Amtsvorgängers redete Reul plötzlich sogar von „Fehlerkultur“ bei der Polizei - der kauzige Rheinländer unterzog sie gleichwohl mit reichlich rhetorischen Schnitzern persönlich einer permanenten Belastungsprobe.

Ein ähnliches Bild in der Schulpolitik. Das „Turbo-Abitur“ wurde nach jahrelangem Streit schnell und geräuschlos abgeschafft. Die angeblich unmögliche Messung des Unterrichtsausfalls: ist nun eingeleitet. Das Inklusionschaos bei der Integration von behinderten Kindern in den Regelunterricht: wird jetzt zumindest an Qualitätskriterien ausgerichtet.

Der Stau in NRW ist nicht annähernd beseitigt. Aber Gelder für neue Straßen wurden abgerufen, Ingenieure eingestellt und Planungsbeschlüsse auf Vorrat gefasst. Nach neun Boom-Jahren übervolle Steuerkassen erwiesen sich als ideales Schmiermittel der Regierungsmaschinerie. Die lange frustrierte NRW-Wirtschaft fühlt sich durch „Entfesselungspakete“ des umtriebigen FDP-Wirtschaftsministers und Ökonomie-Professors Andreas Pinkwart wieder wertgeschätzt. NRW, in Berlin lange als einflusslos wahrgenommen, hat mit dem neuen Max-Planck-Institut für Cyber-Sicherheit in Bochum und der Münsteraner Forschungsfabrik für Batteriezellen zwei wissenschaftliche Dickschiffe festmachen können.

Laschet ist schneller in die Landesvater-Rolle gewachsen als erwartet

Laschet selbst ist schneller in die Rolle des Landesvaters gewachsen, als es Kritiker vermutet hatten. Der 58-jährige Aachener galt in der Union lange als zu liberal, zu sprunghaft, zu freundlich. Zu viel „Türken-Armin“ und rheinischer Bauchmensch, zu wenig Aktenstudium und harter Entscheider. Im Ministerpräsidenten-Amt kam es Laschet aber zupass, dass er wenig lieber macht, als interessante Menschen zu treffen und persönliche Eindrücke zu sammeln. Er absolviert mehr als doppelt so viele öffentliche Termine wie Amtsvorgängerin Kraft, lässt sich bis auf wenige Stunden am Wochenende jeden Tag mit Repräsentationsauftritten vollpacken.

In Krisenmomenten wie nach der Amok-Fahrt im Frühjahr 2018 in Münster traf Laschet sicher den richtigen Ton.
In Krisenmomenten wie nach der Amok-Fahrt im Frühjahr 2018 in Münster traf Laschet sicher den richtigen Ton. © dpa | Marcel Kusch

Laschet zieht viel aus diesem Pensum, wirkt beseelt von einer permanenten Lust auf Horizonterweiterung. Literatur, Religion, Fußball, Geschichte, Schauspiel, Mode, Außenpolitik – es gibt wenige Gebiete, auf denen er nicht trittsicher ist. Seine Schlagfertigkeit und Fähigkeit zur Selbstironie nehmen ihm zugleich die Schwere eines bildungsbürgerlichen Staatsmanns.

Ordensverleihungen, Laudationes, Prominenten-Begegnungen und Botschafter-Empfänge sind augenscheinlich auch Laschets Rezept, so etwas wie Landesbewusstsein herzustellen. Seit Johannes Raus „Wir in NRW“ ist es keinem Ministerpräsidenten mehr gelungen, sich als Klammer für das in Westfalen und Rheinländer, Stadt und Land, Arm und Reich, Industrie und Landwirtschaft zerklüftete Bindestrich-Land zu inszenieren. Laschets Maßstab ist das pralle Selbstbewusstsein Bayerns, wo er einst Jura studierte und erste Schritte als Radiojournalist unternahm.

Terminhatz und Themen-Pingpong - wofür steht der Ministerpräsident?

Zu den Erkenntnissen der ersten zweieinhalb Regierungsjahre gehört ebenso, dass der Ministerpräsident in Krisenmomenten den richtigen Ton trifft. Ob nach der Amok-Fahrt von Münster, dem antisemitischen Anschlag von Halle, in der Thyssen-Krupp-Schieflage oder bei der Trauerfeier für Manager Werner Müller: Laschet verlässt sich nicht auf Sprechzettel der Versatzbauwerkstatt einer Staatskanzlei, sondern auf sein eigenes Gefühl.

Es ist ihm mit der Terminhatz jedoch nicht gelungen, sich mit einem zentralen Thema zu verbinden. Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass die Menschen ihren Ministerpräsidenten zwar ganz nett finden, aber nicht wirklich wissen, wofür er steht. Mal legt er sich für die Braunkohle-Industrie in die Kurve, dann wieder verpasst er sich einen grünen Anstrich. Mal gibt er den Law-and-Order-Mann, dann wieder den Multikulti-Versteher. Gewiss, ein Land wie NRW ist immer viel Sowohl-als-auch. Aber Laschets notorisches Themen-Ping-Pong und diese Wochen, in denen er Flugzeuge tauft, Exzellenzen begrüßt, Preise verleiht, zum „Schmuckbotschafter“ ernannt wird und Thronfolger empfängt, tragen nicht gerade zur Profilschärfung bei.

Hinzu kommt eine handwerkliche Wurstigkeit, die dieser Landesregierung anhaftet. Der ungestüme Polizei-Einsatz im „Hambacher Forst“, der Abschiebe-Skandal um den islamistischen Gefährder Sami A., das Hin- und Her bei der Mietpreisbremse, Organisationspeinlichkeiten im Vorfeld der Gedenkveranstaltung für den Brandanschlag von Solingen, der Ärger um Flüchtlingskosten der Kommunen – die Mängelliste ist lang. Auch die große Kita-Reform stellte kaum einen zufrieden: Obwohl Erzieherinnen am Limit arbeiten und Tausende Betreuungsplätze fehlen, blies Schwarz-Gelb Hunderte Millionen für ein weiteres beitragsfreies Jahr raus, das in keinem Wahlprogramm stand.

U-Ausschüsse, Bürgerinitiativen, gebrochene Versprechen: Manches läuft unrund

Drei Untersuchungsausschüsse im Landtag und ein Allzeithoch an Bürgerinitiativen sind weitere Indizien, dass vieles unrund läuft. Altschulden-Abbau, Grunderwerbsteuer-Senkung, Gleichbesoldung aller Lehrer mit gleicher Ausbildung – von großspurigen Ankündigungen aus Oppositionszeiten ist überdies wenig geblieben.

Musste auch dorthin, wo es weh tut: Laschet nach den Auseinandersetzung um den Hambacher Forst im Herbst 2018 bei Braunkohle-Gegnern in Erkelenz.
Musste auch dorthin, wo es weh tut: Laschet nach den Auseinandersetzung um den Hambacher Forst im Herbst 2018 bei Braunkohle-Gegnern in Erkelenz. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Zur Mitte der Legislaturperiode treten Laschet und seine Mannschaft nun in eine gefährliche Phase ein. Ein langgedienter Düsseldorfer Korrespondent markierte sie bei früheren Landesregierungen einmal als den Moment, „in dem sie denken, sie könnten über Wasser gehen“. Man hat sich an all die Empfänge gewöhnt, an die Blaulicht-Fahrten und die eilfertigen Mitarbeiterstäbe. Man gibt viel und findet, die Annehmlichkeiten des Amtes stünden einem zu. Kritik wird allmählich nervend. Opposition, Bürgerinitiativen und Journalisten werden zu „Fairness“ ermahnt, deren Regeln man freilich selbst definiert. Nicht zu vergessen die wachsenden Empfindsamkeiten des kleinen Regierungspartners FDP, der seit Lindners Jamaika-Flucht (“Lieber nicht regieren als falsch“) im Abwärtssog steckt.

Der in einer Karriere mit vielen Niederlagen gestählte Laschet wirkte nie sonderlich anfällig für Höhenflüge. Doch sein Kokettieren mit Kanzler-Ambitionen, das ursprünglich nur der strategische Gegenentwurf zu Hannelore Krafts „Nie, nie, Berlin“-Selbstverzwergung sein sollte, nahm zuletzt bedrohliche Ausmaße an. Ein Doppel-Interview mit SPD-Altkanzler Gerhard Schröder, das in dampfender Männlichkeit die Autorität von CDU-Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer untergrub, verstörte selbst Laschets Freunde. Ob sie bei einem immer dichteren Kordon an Schulterklopfern noch durchdringen? Laschet hat einst aus der Nähe beobachtet, wie Jürgen Rüttgers plötzlich glaubte, es besser zu können als Angela Merkel, und Hannelore Kraft als „Kümmerin“ mit dem Zeug für jedes Amt außer Päpstin gefeiert wurde. Welche Lehren er daraus für sich gezogen hat, wird man im Mai 2022 sehen.

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