Düsseldorf. . Herbert Reul ist der wohl unkonventionellste Innenminister Deutschlands. Seine Linie gegen kriminelle Clans hat sich durchgesetzt. Ein Porträt.
Hier irgendwo im Staub muss Norbert Blüm gelegen haben. Herbert Reul stapft in Jeans und klobigen Schuhen den Grenzzaun in Idomeni entlang. Es ist Anfang Mai, der Himmel wolkenlos, das Licht grell. Reul hat seine Sonnenbrille vergessen. Vor ihm liegt Nordmazedonien, hinter ihm Griechenland. Vor drei Jahren saßen hier bis zu 40.000 Menschen fest, die über die Balkan-Route nach Deutschland wollten. Schuhe, Kleidungsfetzen und rostige Konservendosen erinnern an die humanitäre Katastrophe.
Mittendrin hatte der bereits 80-jährige Blüm sein Zelt aufgeschlagen. Der Langzeit-Arbeitsminister der Regierung Kohl konnte die abendlichen Tagesschau-Bilder nicht mehr ertragen. Blüm campierte aus Solidarität im Dreck neben den Flüchtlingsfamilien. „Kulturschande Europas“ nannte Blüm die Zustände in Idomeni.
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Reul ist nun als Innenminister Nordrhein-Westfalens hierher gekommen. Er will seinen Beamten den Rücken stärken. Seit der Flüchtlingskrise unterstützt die NRW-Polizei die EU-Grenzschutzagentur „Frontex“, um Migranten den Weg nach Mitteleuropa zu versperren. In Idomeni verschränken sich auf seltsame Weise Vergangenheit und Gegenwart. Blüm und Reul haben in den 90er Jahren eng zusammengearbeitet.
Während Blüm als Arbeitsminister und soziales Gewissen der Union in Bonn wenig Zeit und Interesse für die NRW-CDU hatte, deren Landeschef er war, hielt Reul als Generalsekretär in Düsseldorf für ihn die Stellung. Die störrische Prinzipientreue des früheren Chefs bewundert Reul bis heute. „Herbert, Du musst jeden Tag in den Spiegel schauen können“, habe der ihm eingeschärft. „und wenn Du Narben siehst, ist das nicht schlimm.“
Herbert Reul lässt seiner Persönlichkeit freien Lauf
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Reul hat für sich daraus den Schluss gezogen, dass er in der Politik immerzu seiner Persönlichkeit freien Lauf lassen soll. Wenn smarte Typen mit geschliffener Rhetorik wie Christian Lindner oder Robert Habeck heute Idealfiguren des politischen Betriebs sind, ist Reul das glatte Gegenteil. Der 67-Jährige spricht schnell und viel, in hoher Tonlage und oft in Sätzen, die in einer Art Autokorrektur-Modus noch bei der Vervollständigung wieder eingefangen werden. „Das ist der größte Quatsch, den ich je gehört habe, nein, falsch, es ist im Augenblick nicht die richtige Lösung“, sagt er dann. Wenn Reul etwas nicht nachvollziehen kann, stöhnt er: „Da packste Dir an den Kopp.“ Passt ihm etwas nicht, ruft er: „Die Veranstaltung mache ich nicht mehr mit, da bin ich zu alt für.“ Kann er etwas nicht, mault er: „Simsalabim läuft halt nicht.“
Der kleingewachsene Mann mit der knittrigen Mimik lacht viel, gern über sich selbst, und erinnert zuweilen an den schlitzohrigen Gendarm Cruchot aus Louis-de-Funès-Filmen. Reul war in den 80er Jahren Studienrat für Sozialwissenschaften am Städtischen Gymnasium Wermelskirchen und unterrichtete in einem Kollegium mit dem Vater von Christian Lindner.
Reul nennt sich selbst "gelernter politischer Streithansel"
Reul wirkt mit seiner Art als „gelernter politischer Streithansel“, wie er sich nennt, gelegentlich aus der Zeit gefallen. Er ist so aber weit gekommen. Er war Stadtrat seiner Heimatstadt Leichlingen, 19 Jahre Landtagsabgeordneter, 12 Jahre CDU-Generalsekretär, 13 Jahre Europaabgeordneter.
Am 30. Juni 2017 ist Reul erstmals in der Exekutive gelandet. Innenminister. Das landespolitisch wichtigste Amt nach dem Ministerpräsidenten. Ohne Regierungserfahrung. Ohne Jura-Examen. Ohne ein Vorleben als Innenpolitiker.
„In einem Alter, in dem andere in Rente gehen, fange ich noch mal was ganz Neues an“, freut er sich. Als der Anruf von Armin Laschet kam, war Reul gerade auf dem Weg nach Wuppertal in die Oper Rigoletto.
Herz auf der Zunge, Staatsgewalt in der Hand – kann das gut gehen?
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Seither fragt man sich: Herz auf der Zunge, Schalk im Nacken, Staatsgewalt in der Hand – kann das gut gehen mit dieser Alterskarriere? Die Opposition im Landtag hat sich schnell auf Reul eingeschossen. In den ersten Monaten spottete sie noch über Reuls Pose des innenpolitischen Lehrlings, der als „Herbert im Wunderland“ im Blaulicht-Schein viel zu staunen hatte. Erst das Polizei-Versagen im Missbrauchsskandal von Lügde lässt die SPD ultimativ Reuls Rücktritt fordern. „Da kann ich nicht mit dienen im Moment“, witzelt Reul aber bloß Anfang Mai unter dem Gejohle des CDU-Landesparteitags in Düsseldorf. Obwohl er weiß, dass man als Politiker eigentlich nie den eigenen Rücktritt öffentlich thematisieren darf.
Auch im Fall des unschuldig inhaftieren Syrers Amad A., der im September 2018 in der Justizvollzugsanstalt Kleve bei einem Zellenbrand ums Leben kam, unterliefen der Polizei schwere Fehler. Immer wieder bringt sich Reul zudem mit Turbo-Rhetorik und fehlender Impulskontrolle in die Bredouille. Er brennt, ist betroffen, folgt oft dem Bauch, verheddert sich zwischen Flapsigkeit und Superlativen.
Reul lädt dazu ein, ihn zu unterschätzen
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Als er seine harte Linie gegen die Waldbesetzer im Hambacher Forst vor dem Innenausschuss verteidigen will, vergaloppiert er sich. Seine Aussage zu den Umständen eines tragischen Todesfalls lässt sich nicht halten. Im Streit um die Abschiebung des islamistischen Gefährders Sami A. rät Reul den Richtern, ihre Urteile am „Rechtsempfinden“ der Bürger auszurichten. Nach einem Proteststurm und Leitartikeln über das verquere Rechtsstaatsverständnis des NRW-Verfassungsministers muss er seine Worte zurücknehmen. Im Fall Lügde bringt Reul zuweilen die eigenen Beamten gegen sich auf, weil er als brutalst möglicher Aufklärer im eigenen Laden Sätze sagt wie: „Selbst meine Omma hätte gemerkt, dass da was nicht stimmt.“
Reul lädt anderseits dazu ein, ihn zu unterschätzen. Als Generalsekretär hat er früh verinnerlicht, dass man in Kinosäle gehen muss und nicht in Plenarsäle, um zu wissen, wie normale Menschen ticken. Beim „NRW-Tag“ im Sommer 2018 in der Essener Fußgängerzone kann man Landesminister auf der Bühne erleben, die sich und das Publikum mit Politiksprech quälen. Dann kommt Reul. Ein paar Scherze, ein paar Alltagsweisheiten, ein paar Botschaften, schon hat er die Leute.
Für Herbert Reul ist Politik eine Leidenschaft
Reul stammt aus einer politischen Familie. Sein Vater Karl war eine lokale CDU-Größe und Bürgermeister von Leichlingen. Seine Schwester ist Dezernentin in Remscheid. Anders als viele Berufspolitiker, die so tun, als könnten sie jederzeit aufhören, gibt Reul gerne zu, dass Politik die Leidenschaft seines Lebens ist. Fast eine Sucht. Er ist verheiratet und hat drei erwachsene Töchter, doch seine Familie war immer auch die CDU.
Vor Jahrzehnten gründete Reul den „Leichlinger Kreis“, eine einflussreiche Runde von eher liberalen Parteifreunden, die sich programmatische Gedanken macht. Hier tummelte sich früh auch das Aachener Talent Armin Laschet. Reul ist für den Ministerpräsidenten bis heute ein wichtiger Ratgeber. „Ein politisches Schwergewicht“, urteilt Laschet über Reul. Der Ministerpräsident versteigt sich auch schon mal zur Behauptung, Reul sei „der beste Innenminister seit 50 Jahren“.
Öffentlichkeitswirksame Razzien gegen kriminelle Clans
Er ist zwar nicht der „schwarze Sheriff“, den viele in der CDU nach dem Wahlsieg 2017 erwartet hatten. Doch Reul hat in zwei Jahren Rekordeinstellungen und viel Geld für Ausrüstungen und Modernisierungen bei der Polizei herausgeholt. Eine große Polizeireform, die neue Befugnisse bringt, schleuste er nach cleveren Verhandlungen sogar mit Zustimmung der SPD durch den Landtag.
Mit öffentlichkeitswirksamen Razzien gegen kriminelle Clans signalisiert er Entschlossenheit. Anfangs spottete die Opposition noch über die personalintensiven Durchsuchungsaktionen, die der Minister zu nächtlicher in Shisha-Bars und Clubs des Ruhrgebiets persönlich begleitete. Außer politischen Show-Effekten und ein paar Gramm unversteuertem Tabak komme nicht dabei herum, lautete die Kritik.
Seit jedoch im bundesweit ersten Lagebild zur „Clan-Kriminalität“ die Experten des Landeskriminalamts ausdrücklich diese Null-Toleranz-Linie unterstützten, um die Geschäfte dubioser Großfamilien systematisch zu stören, gibt es kaum noch Zweifel an Reuls hartem Kurs.
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Der CDU-Mann profitiert von seiner politischen Erfahrung und misstraut dem Korpsgeist der Polizei. So hat er es schon als Europaabgeordneter gehalten, als ihm die EU-Seeligkeit des Brüsseler Establishments nicht geheuer war. Leise baut Reul das Innenministerium auf Schlüsselpositionen um. Er hat ein gutes Auge für Top-Leute und sich damit ein enges Umfeld geschaffen, um das ihn mancher Kabinettskollege beneidet. Das macht ihn unabhängiger vom Apparat. Reul siezt selbst enge Mitarbeiter, die allesamt so anders sind als er selbst. Er ist kein Innenminister, der mit Aktenordner nach Untergebenen wirft, wie man es Otto Schily nachsagte. Herbert Reul weiß, dass er ihnen viel zumutet. Mit dem Amt, mit sich.
Dieser Text erschien zuerst im Rahmen unserer Serie "Dossier NRW" in der digitalen Sonntagszeitung.