Brüssel. . Belgien, Spanien, Italien. In mehreren Regionen Europas träumt man von der Eigenständigkeit. Das Referendum auf der Insel könnte für sie ein Signal sein. Experten haben 80 Regionen in Europa identifiziert, in denen die Idee der Loslösung aus dem bisherigen Staatsverbund Wurzeln geschlagen habe.
Der Ernstfall ist nicht vorgesehen: Die EU-Verträge enthalten keinerlei Regelungen, falls ein Mitgliedsland sich teilt oder ein Stück seines Hoheitsgebiets einbüßt. Um so ansteckender könnte es sein, wenn das, was die Väter des europäischen Grundgesetzes offenbar für undenkbar hielten, nun einträte.
Allein die Tatsache, dass die Schotten über ihre Eigenständigkeit abstimmen, weckt ähnliche Gelüste in anderen Regionen. Von Barcelona bis Brüssel fragen sich Menschen: Machen wir’s wie die Schotten?
Demokratie ist wieder sexy
Im Nordosten Spaniens und im Norden Belgiens stehen die Regional-Nationalisten bereits auf dem Sprung: „In Katalonien hat die Stimmung pro Unabhängigkeit in den letzten acht Jahren dramatisch an Boden gewonnen“, sagt Roger Albinyana i Saigi, in der katalanischen Autonomie-Verwaltung zuständig für Außen- und Europapolitik. Viele der 7,5 Millionen Bewohner der Region Barcelona und Umland sind unzufrieden mit dem, was ihnen die Zentralregierung in Madrid an Selbstständigkeit zugesteht. Erbost sind sie auch über das „Haushaltsdefizit“ – die überdurchschnittlich wohlhabenden Katalanen zahlen mehr in die spanische Staatskasse, als von dort in ihren Landstrich zurückfließt.
Am 9. November wollen sie abstimmen. Die praktischen Folgen eines möglichen Votums pro Unabhängigkeit sind allerdings unklar, eine bindende Wirkung gibt es nicht. Madrid will die Abtrünnigen mit allen Mitteln stoppen.
Zulauf für Separatisten
Der harte Kurs der Madrider Zentrale hat den Separatisten weiteren Zulauf beschert. Mehr als 1,5 Millionen Menschen gingen kürzlich auf die Straße. Hier macht sich ein Effekt bemerkbar, der auch in Schottland den Patriotismus beflügelt: Mit der Idee der Abspaltung ist Demokratie auf einmal wieder hip und sexy. Eine prächtige Gelegenheit, den arroganten Inhabern der Macht in den Regierungszentralen zu zeigen, dass der Souverän aufmüpfiger und rühriger ist, als sie ihn gern hätten.
Auch an einer anderen Ecke Spaniens rumort es. Die Autonome Region Baskenland will sich selbstständig machen. „Wir wollen den Weg Schottlands gehen“, sagte der regionale Regierungschef Iñigo Urkullu gestern.
Flandern will raus aus Belgien
Anders kommt der Separatismus im Königreich Belgien daher. Ein Alleingang des nördlichen Landesteils Flandern ist längst nicht mehr das Projekt politischer Randfiguren, sondern Programmpunkt im Establishment. Die Partei N-VA, die Flanderns Selbstständigkeit betreibt, wurde bei den Parlamentswahlen im Mai stärkste Kraft im Parlament.
Zwar will sie ihr großes Ziel vorerst nicht offensiv verfolgen. Der Gang der Dinge sorge ohnehin dafür, dass der Staat Belgien als Ebene zwischen Region und EU nach und nach „überflüssig“ werde. Dennoch würde das Beispiel Schottland dem Projekt „unabhängiges Flandern“ zusätzliche Glaubwürdigkeit verleihen.
Wieder anders liegt die Sache in Italien, wo die Separatisten der Lega Nord seit Jahren die Abspaltung des reichen Nordens vom wirtschaftlich abgehängten Süden betreiben. Allerdings ist dieser Traum von „Padanien“ ein politisches Projekt der Lega Nord und findet in weiten Teilen der Bevölkerung keinen positiven Widerhall. Die Teilung trifft, anders als in Schottland, nicht ins Herz der Menschen.
In 80 Regionen gärt es
In vielen weiteren Regionen gärt es ebenfalls – mal mehr, mal weniger: In Frankreich in Korsika und in der Bretagne, im britischen Nordirland und in Italien in Südtirol oder auf Sardinien. Eine Fachtagung der Evangelischen Akademie Tutzing identifizierte nicht weniger als 80 Regionen „in und um Europa herum“, in denen die Idee der Loslösung aus dem bisherigen Staatsverbund Wurzeln geschlagen habe.
In der Europäischen Freien Allianz haben sich über 30 Regionalparteien im Zeichen eines „progressiven demokratischen Nationalismus“ vereint. Hier stelle sich eine Großaufgabe, so der Fraktionschef der Christdemokraten im EU-Parlament, Manfred Weber: „Wir müssen Regionalität unter den Schirm Europa kriegen, ohne mehr Instabilität zu schaffen.“