Brüssel. . Diese Woche halten sie nicht nur in London und bei der EU in Brüssel den Atem an. Der Ausgang des Referendums über die schottische Unabhängigkeit am Donnerstag wird in zahlreichen EU-Ländern mit Spannung verfolgt, in denen separatistische Bewegungen an Boden gewinnen. Schottland könnte zum Modell werden.

Der Fall ist nicht vorgesehen: De EU-Verträge enthalten keinerlei Regelungen, falls ein Mitgliedsland sich teilt oder ein Stück seines Hoheitsgebiets einbüßt. Um so ansteckender könnte es sein, wenn das, was die Väter des europäischen Grundgesetzes offenbar für undenkbar hielten, nun einträte. Geht doch! Die Realität widerlegte die Theorie – und würfe die Frage auf: Wieso nur in Schottland?

Im Nordosten Spanien und im Norden Belgiens stehen die Regional-Nationalisten bereits auf dem Sprung: „In Katalonien hat die Stimmung pro Unabhängigkeit in den vergangenen acht Jahren dramatisch an Boden gewonnen“, sagt Roger Albinyana i Saigi, in der katalanischen Autonomie-Verwaltung (Generalität) zuständig für Außen- und Europapolitik. Viele der 7,5 Millionen Bewohner der Region Barcelona und Umland sind unzufrieden mit dem, was ihnen die Zentralregierung in Madrid an Selbständigkeit zugesteht. Erbost sind sie auch über das „Haushaltsdefizit“ – die überdurchschnittlich wohlhabenden Katalanen zahlen mehr in die spanische Staatskasse, als von dort in ihren Landstrich zurückfließt.

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Katalanen stimmen auch über Unabhängigkeit ab

Am 9. November wollen sie abstimmen. Die praktischen Folgen eines möglichen Votums pro Unabhängigkeit sind freilich unklar. Anders als bei den Schotten. Die haben von der Regierung in London die verbindliche Zusicherung, dass die Entscheidung allein in ihren Händen liege. Madrid will hingegen die Abtrünnigen mit allen Mitteln stoppen. Das Verfassungsgericht soll das Votum untersagen, auch wenn es formal nur eine unverbindliche Befragung wäre, ob die Selbstverwaltung in Barcelona mit Madrid über den Gang in die Unabhängigkeit verhandeln soll.

Der harte Kurs der Madrider Zentrale hat den Separatisten weiteren Zulauf beschert Mehr als anderthalb Millionen Menschen gingen vorige Woche auf die Straße. Hier macht sich ein Effekt bemerkbar, der auch in Schottland vor dem Volksentscheid den Patriotismus beflügelt: Mit der Idee der Sezession ist Demokratie auf einmal wieder hip und sexy. Eine prächtige Gelegenheit, den arroganten Inhabern der Macht in den Regierungszentralen zu zeigen, dass der Souverän aufmüpfiger und rühriger ist, als sie ihn gern hätten.

Belgien vor der Spaltung?

Anders – nicht auf der Straße, sondern aus dem Sitzungszimmer – kommt der Separatismus im Königreich Belgien daher. Ein Alleingang des nördlichen Landesteils Flandern ist längst nicht mehr das Projekt politischer Randfiguren, sondern Programmpunkt im Establishment. Die Partei N-VA, die Flanderns Selbständigkeit betreibt, wurde bei den jüngsten Parlamentswahlen im Mai stärkste Kraft im Parlament und wird das auch in der kommenden Regierung sein.

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Zwar will sie in der geplanten Mitte-Rechts-Koalition ihr großes Ziel vorerst nicht offensiv verfolgen. Der Gang der Dinge sorge ohnehin dafür, dass der Staat Belgien als Ebene zwischen Region und EU nach und nach „überflüssig“ werde. Dennoch würde das Beispiel Schottland dem Projekt „unabhängiges Flandern“ zusätzliche Glaubwürdigkeit verleihen.

In zahlreichen weiteren Regionen gärt es ebenfalls: In Korsika und in der Bretagne, im Baskenland und in Südtirol, in Sardinien und „Padanien“, dem Traumstaat der Lega Nord in Italien. Eine Fachtagung der Evangelischen Akademie Tutzing identifizierte in diesem Frühjahr nicht weniger als 80 Regionen „in und um Europa herum“, in denen die Idee der Loslösung aus dem bisherigen Staatsverbund Wurzeln geschlagen habe. In der Europäischen Freien Allianz (EFA) haben sich drei Dutzend Regionalparteien im Zeichen eines „progressiven demokratischen Nationalismus“ zusammen getan. Hier stelle sich der EU eine neue Großaufgabe, meint der Fraktionschef der Christdemokraten im Europa-Parlament, Manfred Weber: „Wie wir Regionalität unter dem Schirm Europa hinkriegen, ohne mehr Instabilität zu schaffen.“