Brüssel. Für die Beteiligten in den Verhandlungen zwischen EU und USA bei dem umstrittenen Freihandelsabkommen TTIP gilt Geheimhaltungspflicht. Auch der designierte EU-Kommissionschef Juncker fordern mehr Transparenz. Denn gegenüber TTIP wächst das Misstrauen.
Wenn Reinhard Quick in den Leseraum geht, muss er sein Handy, Tablet und alle elektronischen Gerätschaften abgeben. Im Empfang des Berlaymont-Gebäudes an der Rue Belliard 170, Sitz der Handels-Abteilung der EU („DG TRADE“) im Brüsseler EU-Viertel, holt man ihn ab und bringt ihn in nach oben in den schmucklosen Raum. Dort wartet ein Ordner mit Dokumenten auf ihn: vertrauliche Informationen zum geplanten Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten. Auf dem Ordner steht: Reinhard Quick. Sein Ordner. Daneben liegt: sein Notizpapier, mit einer Art persönlichem Wasserzeichen, nachverfolgbar.
Die diskrete Dame hinter dem Schreitisch passt auf, dass Quick nicht doch ein Smartphone in den Leseraum geschmuggelt hat und womöglich Unterlagen kopiert. Quick ist Geheimnisträger. Er leitet das Europabüro des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI) und ist Industrievertreter in der internationalen Ratgebergruppe für das, was im Brüsseler Jargon nach der englischen Abkürzung „Tie-Tipp“ (TTIP) genannt wird: die Verhandlungen über eine „Transatlantische Handels- und Investitions-Partnerschaft“.
TTIP ist ein Aufreger erster Güte
Die vor einem Jahr gestarteten Gespräche - jüngst endete die sechste Verhandlungsrunde - führt für die Europäer der EU-Kommissar Karel De Gucht mit seiner DG TRADE. Die Ratgeber sollen die Standpunkte eines breiten Spektrums von Interessenten einbringen: Wirtschaft, Gewerkschaften, Verbraucher, Gesundheits- und Umweltverbände. Dafür bekommen Quick und seine Mitstreiter auch vertrauliche Unterlagen zu lesen. „Ich finde diesen Zugang nützlich“, sagt der deutsche Chemie-Repräsentant. „Man bekommt einen Einblick in das Gesamtwerk der Verhandlungen.“ Die Strategie dahinter werde freilich nicht erläutert. „Das müssen Sie selbst ableiten.“
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Für Quick ist der Leseraum ein Stück Transparenz. Für die Kritiker ist er verdächtig – ein weiteres Indiz, dass bei TTIP turboliberale Marktfetischisten und ihre politischen Handlanger etwas aushecken, das ihre Geschäfte fördert, zugleich aber Grundrechte des Verbrauchers und Bürgers stiekum aushebelt. Für Handelsverträge hat sich die breite Öffentlichkeit in der Vergangenheit nicht interessiert. TTIP ist ein Aufreger erster Güte.
Streitpunkt "Investorenschutz"
Zum Beispiel wegen des Investorenschutzes: Anleger können Staaten auf riesige Summen Schadenersatz verklagen, wenn sie ihre Geschäftsinteressen durch politische Entscheidungen beeinträchtigt sehen – vor Schiedsgerichten, die hinter verschlossener Tür tagen und Entscheidungen treffen, die nicht veröffentlicht werden. Einschlägige Klauseln sind Standard in weltweit mehr als 3000 bilateralen Handelsverträgen. Allein Deutschland hat deren 130. TTIP hat dafür gesorgt, dass auf einmal Anstoß genommen wird an dem, was selbstverständlich schien.
Und nichts ist so anstößig wie Türen, die sich schließen, und Papiere, die nicht veröffentlicht werden. De Guchts Abteilung versichert, noch nie seien Handelsgespräche so transparent geführt worden: Tausende Seiten Dokumente auf der Website der DG TRADE, regelmäßige Unterrichtung von Interessenvertretern, Zivilgesellschaft, Europa-Parlament und Presse. „Ein Fortschritt“, sagt Jos Dings, der für die umweltbewusste Verkehrslobby T & E im Beratungsausschuss sitzt, „aber nur weil in der Vergangenheit überhaupt nichts, nicht ein Dokument veröffentlicht wurde.“
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"Mehr Offenheit bei den TTIP-Verhandlungen wäre möglich"
Was nütze es der Öffentlichkeit, fragt Dings, wenn er, Quick und die übrigen zwölf Berater Informationen bekämen, die sie nicht weitergeben dürften? Und „die Kommission hört ja nicht wirklich zu. Die informieren uns, aber die konsultieren uns nicht!“ Nicht ganz so kritisch ist Tom Jenkins, für den europäischen Gewerkschaftsdachverband ETUC Mitglied des Beratergremiums. Immerhin seien für einen Teil der Geheimhaltung die Amerikaner, nicht De Gucht und seine Leute verantwortlich. „Aber nichtsdestoweniger wäre mehr Offenheit möglich.“
Das findet auch Jean-Claude Juncker, künftiger Chef der EU-Kommission. Er sei für das große Abkommen mit den USA, bekannte Juncker vor dem Europa-Parlament. Aber wenn es dabei nicht offenherziger zugehe, werde es in der Öffentlichkeit und vor den Parlamenten durchfallen. „Lassen Sie uns transparenter sein! Lassen Sie uns nicht den Eindruck erwecken, wir hätten etwas zu verbergen!“
Bei manchen ist dieser Eindruck schon gefestigt: In Brüssel hat sich ein Netzwerk aus fast 150 Organisationen, Parteien und Interessengruppen formiert, das mithilfe einer Europäischen Bürgerinitiative TTIP und CETA ein paralleles Abkommen mit Kanada endgültig stoppen will.