Düsseldorf. 1994 kippten Richter die Fünf-Prozent-Hürde für die Räte. Seither reden viele mit in den Stadt-Parlamenten - manchmal sind es zu viele. Durchschnittlich sind acht Fraktionen oder Einzelmitglieder vertreten. Es kann aber auch mehr als ein Dutzend werden.

Michael Bertrams, jahrelang Präsident des Verfassungsgerichts, ist längst in Pension. Koalitionen haben in NRW gewechselt, Ministerpräsidenten sind gekommen und gegangen. Eine Konstante hat alles überlebt: das Lamento über das Gedränge in überfüllten Stadträten und die Unfähigkeit des Gesetzgebers, daran etwas zu ändern. Nach der gestrigen Kommunalwahl ziehen erneut Hunderte von Splittergruppen, Einzelkämpfern und lokalen Helden in die Rathäuser ein. Vor 20 Jahren nahm die Ohnmacht bei der Suche nach einer kommunalen Sperrklausel ihren Anfang. Ein Ende ist nicht in Sicht.

Sitzungen bis nach Mitternacht

Es ist ein ruhmloses Jubiläum. 1994 verpflichteten die Münsteraner Richter den Landtag, die Fünf-Prozent-Hürde zu überprüfen. Geklagt hatte die ÖDP, die den Grundsatz der Chancengleichheit verletzt sah. Das Gericht gab dem Parlament einen Wink mit dem Zaunpfahl: an der Sperrklausel könne „nicht auf unabsehbare Zeit festgehalten werden“. Aber es geschah: nichts. Fünf Jahre lang saßen SPD und CDU, die alle Räte dominierten und sich nicht durch Minderheiten stören lassen wollten, das Problem aus.

Auch interessant

Umso größer die Hektik, die im Juni 1999 ausbricht. Wieder befasst sich das Gericht mit der Sperrklausel, weil ÖDP und PDS ihre Minderheitenrechte einklagen. Der Landtag wird kalt erwischt. Präsident Ulrich Schmidt (SPD) muss seinen Urlaub abbrechen, um zu retten, was nicht mehr zu retten ist: Münster erklärt die Fünf-Prozent-Hürde für nichtig. Der Kommunalwahl im September droht die Verschiebung. Der Landtag ist geschockt. „Schlafmützen in Düsseldorf“, kommentieren die Zeitungen.

Politische Blamage mündet in denkwürdige Blitzaktion

Die politische Blamage mündet in eine denkwürdige Blitzaktion. Mitten in den Sommerferien müssen sonnengebräunte Abgeordnete eingeflogen werden, um in zwei Sondersitzungen das neue Gesetz durchzuwinken und den Wahltermin zu retten. Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD) wird in Minnesota alarmiert, CDU-Fraktionschef Laurenz Meyer erwischt es in Florida, seinen SPD-Kollegen Manfred Dammeyer in Schweden.

Auch interessant

Geschätzte 100 000 Mark kostet der Rückruf. Noch ehe die erste Lesung beginnt, werden Schuldige für die Schlamperei gesucht – und gefunden. Schmidt feuert seinen Landtagsdirektor Heinrich Große-Sender. Ihm wie dem vom Landtag beauftragten Justiziar wird vorgeworfen, eine „goldene Brücke“ nicht betreten zu haben, die das Münsteraner Gericht dem Parlament habe bauen wollen. Doch nicht nur die Opposition wertet das als Bauernopfer und wirft dem Präsidenten vor, er habe sich selbst aus der Schusslinie bringen wollen.

Die Fünf-Prozent-Hürde in NRW ist versenkt

Als die Politiker wieder in ihre Swimming-Pools eintauchen, ist auch die Fünf-Prozent-Hürde in NRW versenkt. Den Versuch einer „Mindestsitzklausel“ von einem Prozent kippt 2008 ebenfalls das Gericht – es sei eine „Ungleichgewichtung der Wählerstimmen“. Seither dürfen in lokalen Räten immer mehr mitreden. Durchschnittlich sind acht Fraktionen oder Einzelmitglieder vertreten, wie in Dortmund oder im Kreistag Recklinghausen. Der Essener Rat brachte es zuletzt auf neun politische Farben, darunter drei Solisten. Einzelne Kommunen zählten bis zu 13.

Kommunalwahlen 2014An verbaler Kraftmeierei, der „Zerfaserung“ der Ratsarbeit mit einer moderaten Sperrklausel endlich ein Ende zu setzen, hat es seit 1999 nie gefehlt. Passiert ist nichts. Schon jetzt rät Innenminister Ralf Jäger (SPD) von einem neuen Anlauf ab. „Die rechtlichen Hürden sind zu hoch“, warnt er. Zwar sieht auch Jäger die ehrenamtliche Rats­arbeit durch die vielen Mini-Gruppen und „ausufernde Diskussionen“ erschwert. Aber um vor Gericht zu bestehen, müsste nachgewiesen werden, dass ohne Sperrklausel die Räte nicht funktionsfähig sind. Dafür gebe es in NRW „keine belastbaren Belege“ – selbst dann nicht, wenn Sitzungen bis nach Mitternacht dauern.