Berlin. . Im Interview hat sich Kanzlerin Angela Merkel zur Ukraine-Krise geäußert: „Sämtliche Gesprächskanäle müssen offengehalten werden.“ Notfalls fordert sie härtere Sanktionen gegen Russland.
Die Krise um die Ukraine ist „militärisch nicht zu lösen“. Im Interview mit unserer Zeitung sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel weiter, derzeit möge es zwar so wirken, dass sich auf der Krim und anderswo das Recht des Stärkeren durchsetze, „aber wenn wir einen langen Atem haben, dann wird sich am Ende die Stärke des Rechts durchsetzen“, so die Kanzlerin.
Frage: Wirken die Sanktionen gegen Russland?
Angela Merkel: Zur Lösung der Krise in der Ukraine verfolgen wir von Anfang an einen Dreiklang: Erstens unterstützen wir die Ukraine dabei, ihren politischen Weg frei und selbstbestimmt zu gehen – dafür ist die Präsidentschaftswahl am 25. Mai ein wichtiger Schritt. Wir helfen dem Land und seinen Bürgern ganz konkret, z.B. mit der Beratung bei den dringend erforderlichen Reformen. Zweitens setzen wir auf Gespräche mit Russland wie auch zusammen mit der OSZE im Rahmen von Runden Tischen in der Ukraine, um eine diplomatische Lösung zu finden. Drittens sind wir zu weiteren Sanktionen bereit, wenn sich Russland nicht für die nötige Stabilisierung der Situation einsetzt. Wir Europäer müssen auch mittelfristig denken und uns auf Dauer unabhängiger von russischen Gaslieferungen machen. Der Vorschlag des polnischen Ministerpräsidenten Tusk für eine europäische Energieunion geht in die richtige Richtung.
Was ist Plan B, wenn Russland sich doch von Sanktionen unbeeindruckt zeigen sollte?
Militärisch ist die Krise nicht zu lösen. Derzeit mag es so wirken, dass sich auf der Krim und anderswo das Recht des Stärkeren durchsetzt, aber wenn wir einen langen Atem haben, dann wird sich am Ende die Stärke des Rechts durchsetzen.
Aber härtere Sanktionen werden auch uns weh tun.
Europa hat sich nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts auf der Grundlage des Völkerrechts unverzichtbare Regeln gegeben, die uns allen Sicherheit geben. Wenn nun die territoriale Unversehrtheit eines Landes einfach verletzt werden dürfte, dann würden wir alle einen sehr hohen Preis dafür zahlen – auch die deutsche Wirtschaft mit ihren Exportinteressen. Gerade auch für unsere Wirtschaft ist es zentral, dass die Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens in Europa nicht in Frage gestellt werden.
Offensichtlich gibt es in großen Teilen der deutschen Bevölkerung Verständnis für Putins Handlungen. Wie kommt das?
Wir gedenken in diesem Jahr des Beginns des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren, des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren und des Falls der Mauer vor 25 Jahren. Die bitteren Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben sich tief im Gedächtnis der Menschen in Europa verankert. Das heißt jedoch noch nicht, dass die Menschen Rechtsbrüche akzeptieren, aber sie hoffen wie wir alle auf eine diplomatische Lösung.
Die Beziehung zu Putin
Vertrauen Sie Herrn Putin noch?
Präsident Putin und ich können auch in dieser schwierigen Phase immer wieder miteinander sprechen. Wir sehen viele Aspekte der ukrainischen Krise völlig unterschiedlich. Ich kann und will darüber nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, denn wenn ein solches Verhalten unter den Staaten Schule machte, hätte das in Europa unabsehbare Auseinandersetzungen zur Folge. Bei der Ukraine kommt hinzu, dass das Land seine Atomwaffen abgegeben und im Gegenzug auch von Russland eine Garantie für seine territoriale Unversehrtheit bekommen hatte.
Haben Sie wirklich einen besonderen Zugang zu Putin?
Auch viele andere arbeiten zurzeit intensiv daran, eine konstruktive Lösung der Probleme zu erreichen: Außenminister Steinmeier, die Verantwortlichen der OSZE, EU-Ratspräsident Herman van Rompuy, die EU-Außenbeauftragte Ashton und weitere Regierungschefs. Wichtig ist mir, dass Europa und seine transatlantischen Partner Einigkeit im Handeln zeigen.
Aber Europa spricht doch nicht mit einer Stimme.
Im Gegenteil, denn wir haben alle Beschlüsse gemeinsam gefasst, und auch die weiteren Schritte werden wir gemeinsam gehen.
Hat die EU Fehler gemacht? Etwa beim Assoziierungsabkommen mit der Ukraine zu sehr auf das Tempo gedrückt?
Oft wird vergessen, dass es der ehemalige ukrainische Präsident Janukowitsch war, der jahrelang mit der EU über dieses Abkommen verhandelt hat und uns sagte, dass er es unterzeichnen wolle. Dass er dann kurzfristig seine Meinung geändert hat, führte zu einer tiefen Enttäuschung in Teilen der ukrainischen Bevölkerung. Daraus entstand die Bewegung auf dem Maidan. Über all die Jahre waren die EU und die Bundesregierung auch mit Russland im engen Dialog über die gemeinsame Nachbarschaft.
Würden Sie den Satz „Frieden vor Einheit“ unterschreiben?
Ich trete für eine Politik von Frieden und Freiheit und eine selbstbestimmte Entscheidung der Ukraine über ihre Zukunft ein.
Sollten die Separatisten mit am Runden Tisch zur Lösung der Ukraine-Krise sitzen?
Alle Vertreter der Regionen und der ukrainischen Gesellschaft, die sich zum Gewaltverzicht bekennen, sollten an diesem nationalen Dialog beteiligt sein. Die OSZE spielt dabei eine wichtige Rolle.
Die Euro-Krise und ihre Folgen
Kommen wir zu Europa und der Finanzkrise. Welche Lehren ziehen Sie?
Europa muss die Gründungsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion beheben und sich an die Regeln halten, die es sich selbst gesetzt hat.
Das gilt aber auch für Deutschland
Selbstverständlich. Es gibt so viele Beschlüsse auf europäischer Ebene, die von vielen Staaten auch Jahre später noch nicht umgesetzt werden, zum Beispiel den, dass wir drei Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes für Forschung ausgeben wollen. Deutschland übrigens liegt hier bei fast genau drei Prozent.
Und eine weitere Lehre?
Dass Einigkeit und Geschlossenheit zum Erfolg führen. Die Finanzmärkte haben die Eurokrise zu einer großen Bewährungsprobe für uns alle gemacht. Die Euroländer hatten ihnen durch eigene Fehlentwicklungen natürlich auch Ansatzpunkte dafür geboten. Die extreme Staatsverschuldung und die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit gaben Finanzinvestoren die Möglichkeit, den Euro als Gemeinschaftswährung anzugreifen. Doch dahinter stand die übergreifende Frage, ob die Staaten, die der Euro verbindet, zusammenhalten oder nicht. Wir haben bewiesen, dass wir zum Euro stehen, dass er für uns mehr als nur eine gemeinsame Währung bedeutet. Die Krise hat uns eine neue Geschlossenheit gegeben. Hier in Deutschland haben sich darüber hinaus die manchmal durchaus auch mühsamen Verhandlungen mit dem Parlament bewährt. Da war viel Kompromissfähigkeit gefragt, und alle Seiten haben sie aufgebracht.
Ist es Zeit für eine europäische "Ruck-Rede"?
Ist die Euro-Krise denn schon überstanden?
Wir haben eine gute Wegstrecke zurückgelegt, sehen viele Fortschritte gerade auch in den am schwersten betroffenen Ländern – aber am Ziel sind wir längst noch nicht. Wir können die hohe Jugendarbeitslosigkeit nicht hinnehmen, wir müssen noch viel für unsere wirtschaftliche Stärke und Wettbewerbsfähigkeit tun, damit zukunftsfähige Arbeitsplätze für die jungen Menschen entstehen.
Bei den Wahlen gewinnen offenbar die nationalistischen und antieuropäischen Strömungen an Zustimmung. Die Wahlbeteiligung wird wahrscheinlich wieder unter 50 Prozent liegen. Wie wollen Sie den europäischen Geist beleben?
Ich betone im Wahlkampf immer wieder die Bedeutung der Wahlbeteiligung. Das vereinte Europa, und das zeigt die aktuelle Krise um die Ukraine aufs Neue, ist für uns alle von unschätzbarem Wert. Die Generationen vor uns mussten noch in Kriege ziehen. Wir gestalten die Zukunft unseres Kontinents heute friedlich, und jeder Wähler kann dazu bei der Europwahl am 25. Mai seine Meinung frei ausdrücken.
Wird es nicht Zeit für eine europäische „Ruck-Rede“?
Ich habe noch nie etwas von dem einen Paukenschlag gehalten, mit dem alles gesagt oder getan sein soll. Die Realität ist anders. Viel wichtiger ist es, den Menschen täglich zu vermitteln, dass wir in Sicherheit, Freiheit und Wohlstand leben und dass wir uns das von Generation zu Generation immer wieder neu erarbeiten müssen. Uns Deutschen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Hand gereicht.Wir haben sie angenommen und unseren Beitrag zu Europa geleistet. Gerade wir sollten das Friedenswerk Europas hochschätzen. Wir hätten die Deutsche Einheit niemals bekommen, wenn wir nicht in eine gute Nachbarschaft fest eingebunden gewesen wären. Auch wirtschaftlich nützt uns als Exportnation der europäische Binnenmarkt enorm. 60 Prozent unserer Exporte gehen in die EU. Es gibt so viele Gründe, um aus Überzeugung zu sagen, dass Europas Schicksal auch unser Schicksal ist. Deutschland wird es auf Dauer nur gut gehen, wenn es auch Europa gut geht. Nur als vereintes Europa haben wir eine starke Stimme in der Weltpolitik, können wir für unsere Werte und Interessen werben.
Das sehen die Anti-Europäer aber anders.
Wo es berechtigte Kritik an der Europäischen Union gibt, müssen wir sie ernstnehmen und gegensteuern. Die EU ist nicht für die Lösung der Probleme da, die eher vor Ort gelöst werden könnten. So wie wir national immer wieder Debatten führen, was in unserem föderalen System auf welcher Ebene bearbeitet werden soll, so müssen solche Debatten auch in Europa ganz normal werden.
Zum Schluss ein anderes Thema: Sie bleiben beim Nein zu einer Aussage von Edward Snowden vor dem NSA-Untersuchungsausschuss in Deutschland?
Die Bundesregierung hat dazu auf Bitten des Untersuchungsausschusses ihre Stellungnahme abgegeben. Die Entscheidung liegt jetzt in der Hand des Parlaments.