Slawjansk/Sajzewo/Warschau. . „Die Europäer verstehen uns nicht“: Viele Bewohner der Ostukraine misstrauen Kiew und dem Westen zutiefst. Sie träumen von der Sowjetunion. Das international umstrittene Referendum soll ihnen die Tür Richtung Russland öffnen. Putins Propaganda jubelt und zeigt lange Schlangen vor den Wahllokalen.
An zwei grün gedeckten Tischen im Dorfklub sitzen fünf Frauen in Sonntagskleidern, vor ihnen liegen Listen und Papiere. „891 Erwachsene wohnen im Dorf“, berichtet Galina Petrowna, die ganz rechts sitzt. „511 von ihnen haben schon abgestimmt.“
14 Uhr in dem 1300-Seelen-Dorf Sajzewo, Gebiet Donezk, Ostukraine. 14 Uhr an einem Schicksalstag für den ostukrainischen Kohlenpott. Die pro-russischen „Volksrepubliken“ von Donezk und Lugansk lassen über die Abtrennung ihrer Regionen von der Ukraine abstimmen: „Unterstützen Sie den Akt über die staatliche Selbstständigkeit der staatlichen Republik?“ Die Wähler können mit Ja oder Nein stimmen, aber schon jetzt ist klar, dass es kaum eine Nein-Stimme geben wird.
Die Leute von Sajzewo wirken nicht besonders rebellisch. Ins Wahllokal kommen kräftige und bedächtige Menschen, die Männer schütteln Juri Grigorjenko, dem Vorsitzenden Wahlkommission die hartgearbeitete Hand. Juri, 44, früher Seemann, ist jetzt „Minifarmer“ mit neun Kühen und 10900 Quadratmeter Ackerland. Juri hofft wie die meisten Leute hier, dass Donezk in ein paar Monaten zu Russland gehört. „Dann werden Gas und Sprit gleich billiger.“ Die pro-westliche Revolution in Kiew habe die Preise explodieren lassen und die Bauern zu roten Zahlen verdammt. „Wir leben auf einem wirtschaftliche Niveau mit den Russen“, unterstützt ihn seine Frau Inna, „die Europäer aber verstehen uns nicht, weil sie nicht verstehen, wie man mit 1000 Griwnja (etwa 60 Euro) im Monat überleben kann“. „Wir wollen“, sagt eine andere Frau, „wieder mit unseren Brüdern und Schwestern zusammenzuleben.“
Die Staatsmacht in Kiew gilt vielen hier als grausam
Das Dorf Sajzewo liegt etwa 80 Kilometer nordöstlich von Donezk und gut 40 Kilometer südöstlich von der Separatistenhochburg Slawjansk. Aber im Gegensatz zu Slawjansk fehlen in Sajzewo wie in der Kreisstadt Kalaschnikow-Krieger und Sandsackbarrikaden. Der Bürgermeister von Artjomowsk hat die Volksabstimmung erst verboten, Artjomowsk galt bis zuletzt als proukrainisch. Aber jetzt drängen sich auch hier vor 14 städtischen Klubs, Berufsschulen und Gymnasien, Menschentrauben, die für Unabhängigkeit von der Ukraine stimmen wollen. Und die meisten hoffen danach auf eine Wiedervereinigung mit Russland. „Ich bin in der Sowjetunion geboren“, sagt der 25-jährige Wachmann Andrei, der als Videofilmer dazu verdient, um seinen 80-Euro-Monatslohn aufzubessern. Und alle schimpfen auf die neue Staatsmacht in Kiew, die die eigenen Bürger erschießen oder verbrennen lasse.
Das ukrainische Außenministerium bezeichnet die Abstimmung als „von Terroristenbanden organisierte und juristisch nichtige Farce“. Die erdrückende Mehrheit der Bürger in Donezk und Lugansk ignoriere sie. Es gibt Meldungen von ukrainischen Militärstreifen, die stapelweise Abstimmungszettel beschlagnahmt haben. Und proukrainische Aktivisten haben mehrere Parodien auf das Referendum der „Volksrepublik Donezk“ organisiert, eine im Westen der Region über den Beitritt zum Nachbargebiet Dnepropetrowsk, eine andere über den Anschluss Donezks an Großbritannien. „Weder in der Stadt noch in der Region Lugansk gibt es bei diesem ,Referendum’ irgendwo Gedränge vor den Abstimmungslokalen“ versichert die ukrainische Nachrichtenagentur Unian. „Überall herrscht Leere, außer vor zwei Abstimmungslokalen, wo künstliche Schlangen mit öffentlichen Angestellten für das russische Fernsehen organisiert wurden.“
„Russia Today“ zeigt genüsslich die Menschen vor den Wahllokalen
In Artjomowsk sieht die Lage anders aus. Auch Augenzeugen aus dem zuletzt umkämpften Mariupol und der Gebietshauptstadt Donezk melden großen Andrang vor den Abstimmungslokalen.
Der russische Auslandspropagandasender „Russia Today” zeigte den ganzen Tag genösslich lange Schlagen vor einem Stimmlokal in Mariupol. Was Putins Propagandasender dabei verheimlichte ist die Tatsache, dass die pro-russischen Separatisten in der ganzen Stadt pro 100.000 Einwohner nur ein Wahllokal eingerichtet hatten. Normalerweise kommt in der Ukraine auf rund 2000 Stimmbürger ein Lokal.
„70 Prozent hier sind für Russland, 30 Prozent für die Ukraine“, sagt der Arzt Taras Kowal, Führer der patriotischen „Vaterlandspartei“ in Artjomowsk. Die russische Propaganda funktioniere. „Und die Propaganda des Janukowitsch-Regime hat die Grundlage dazu gelegt.“
Außerdem scheinen die Behörden vielerorts bei dem Rebellenreferendum mitzuspielen. Wie der proukrainische Aktivist Jewgeni Gretschnik sagt, zwang die Stadtverwaltung von Mariupol viele Schuldirektoren, ihre Gebäude als Wahllokale zur Verfügung zu stellen. Weil sich ein Schulchef in der Stadt Sewersk weigerte, wurde er nach Angaben anderer Proukrainer krankenhausreif geprügelt.
Drohungen gegen die Bevölkerung
Aber auch die Bauern von Sajzewo erzählen von Angstmache: „Im Dorf wurde eine Zeitung verteilt, die sich Dialog nennt“, sagt Inna. „Sie droht jedem, der an der Abstimmung teilnimmt, mit 5 bis 10 Jahren Gefängnis.“
Ihr Mann Jura aber hofft schon auf Neuanfang und viel Arbeit. „Über 70 Jahre haben wir den Kommunismus gebaut, in ein paar Monaten ist alles kaputtgemacht worden. Jetzt müssen wir wieder von vorne anfangen.“
In Artjomowsk aber haben zwei mollige Mädchen eine große blaue Urne in den 3. Stock eines Ziegelhauses an der Sowjetstraße getragen. Dort erklären die Aktivistinnen einer Greisin mit grauviolettem Haar die Wahl: „Hier stimmen für das gute und da für das schlechte Leben.“ Die Greisin kreuzt entschlossen das „Gute“ an. „Wir hatten doch damals so ein schönes Leben.“ Donezk, so scheint es, will heimkehren in die Sowjetunion.