Srinagar. Überall in Indien strömen die Menschen zur Stimmabgabe, um ein neues Parlament zu wählen. In Kaschmir aber bleiben viele Wahllokale leer. Seit vielen Jahren fordert dort der Kampf um eine Abspaltung immer wieder Tote. Und selbst wer wählen geht, kann alle Kandidaten boykottieren.

Ein Vierteljahrhundert schon dauert der Aufstand im indischen Kaschmir. Ein Vierteljahrhundert voller Bombenanschläge, Feuergefechte, Entführungen und Straßensperren. Viele Kaschmirer haben die Nase voll vom Kampf der Rebellen gegen die Regierung in Neu Delhi, vom Ringen um Unabhängigkeit oder einen Anschluss an Pakistan. Sie wollen endlich Ruhe und Stabilität. "Wir haben genug gelitten", sagt der Geschäftsmann Said Adnan Ahmed in der Landeshauptstadt Srinagar. Trotzdem ging er am Mittwoch nicht wählen.

Derzeit ist das Riesenvolk der Inder in mehreren Etappen zur Wahl eines neuen Parlaments aufgerufen. Auch die Menschen in Kaschmir sollen abstimmen, doch bleiben manche Wahllokale leer. Denn eine neue Zentralregierung zu bestimmen kommt für die Aufständischen und viele Bewohner, die die Hoheit Indiens in Kaschmir nicht anerkennen, nicht infrage.

"An der Wahl teilzunehmen ist ein großer Fehler. Die Menschen sollten den Wahllokalen fernbleiben", sagt Separatistenführer Syed Ali Shah Geelani. Er rief wie viele andere zum Boykott auf. Auch vor Gewalt machten manche Gruppen nicht halt: Drei Lokalpolitiker wurden erschossen, eine Granate explodierte vor einer Wahlkampfveranstaltung und Wahllokale wurden mit Steinen beworfen.

"Wir haben keine echte Wahl"

Adil Ahmad ging trotzdem wählen. Er möchte, dass die indische Regierung eine effektive Verwaltung einsetzt, gute Straßen baut, Elektrizität bereitstellt und Jobs schafft. Und dennoch wünscht er sich die Unabhängigkeit Kaschmirs. "Der Freiheitskampf ist etwas anderes, den können wir nicht vernachlässigen", sagt er.

Bei den Parlamentswahlen 2009 stimmten in Jammu und Kaschmir nur 40 Prozent der Wahlberechtigten ab, so wenig wie in keinem anderen Bundesstaat. In Srinagar waren es sogar nur 25 Prozent. Wählen sei ohnehin sinnlos, die Kaschmirer würden immer unterdrückt, egal wer in Delhi an der Macht sei, sagt Yasin Malik, Vorsitzender der Befreiungsfront von Jammu und Kaschmir.

Das meint auch Abdul Rashid Shah, ein Lehrer aus Srinagar. Nichts ändere sich, egal wem er die Stimme gebe, sagt er. "Wir haben keine echte Wahl." Zwar garantiert Artikel 370 der Verfassung Jammu und Kaschmir weitgehende Autonomierechte, doch regiere die Zentralregierung trotzdem überall rein. "Die Politiker hier sind die Kandidaten und Günstlinge der Regierung in Delhi", meint Shah.

"None of the above"-Knopf als letzte Option

Ein problematisches Gesetz ist auch der sogenannte Armed Forces Special Powers Act. Dieser gibt der Armee freie Hand in Unruhegebieten, ohne zivile Strafverfolgung fürchten zu müssen, wie die Friedrich-Naumann-Stiftung analysiert. Die Armeepräsenz ist in Kaschmir allgegenwärtig. Zahlreiche Bürgerrechtsgruppen beklagen, dass einfache Dorfbewohner erschossen oder Menschen verschleppt werden, ohne dass hinterher jemand zur Rechenschaft gezogen wird.

Erstmals haben die Kaschmirer - wie alle Inder - diesmal die Möglichkeit, zur Abstimmung zu gehen und doch niemanden zu wählen. Der oberste Gerichtshof führte den Knopf "NOTA" auf der Wahlmaschine ein. Das steht für "None of the above", also "Keinen der oben Genannten. Der Anwalt Touseef Khan berichtet aus Srinagar: "Als ich die Straße Richtung Wahllokal lief, konnte ich viele alte Menschen sehen, die über diese letzte Option sprachen." (dpa)