Ankara. . Polizeigewalt, Internet-Sperre, Pressezensur. So scharf wie der Bundespräsident hat noch kein Staatsgast den türkischen Regierungschef kritisiert: „Als Demokrat werde ich dann meine Stimme erheben, wenn ich den Rechtsstaat in Gefahr sehe – auch wenn es nicht der Rechtsstaat des eigenen Landes ist“.

Mit ungewöhnlich kritischen Worten hat sich Bundespräsident Joachim Gauck am Montag bei seinem Staatsbesuch in der Türkei zu Gefahren für die demokratischen Grundrechte geäußert – und damit zugleich deutliche Kritik am Kurs von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan geäußert.

Er beobachte mit Sorge Tendenzen, den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung zu beschränken. „Ich gestehe, diese Entwicklung erschreckt mich“, sagte Gauck vor Studenten der angesehenen Orta Doğu Teknik Universität, der Technischen Hochschule in Ankara.

Türkische Bürgerrechtler hatten der Rede des Bundespräsidenten mit großen Erwartungen entgegengesehen. Sie erhofften sich Zuspruch bei der Verteidigung der Grundrechte, die sie durch den zunehmend selbstherrlichen und autoritären Regierungsstil von Ministerpräsident Erdogan eingeschränkt sehen.

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Schon vor dem Treffen mit dem türkischen Premier Erdogan (r) hatte Bundespräsident Gauck dessen Politik kritisiert.
Von Gudrun Büscher

Gefährdung der Demokratie

Und Gauck enttäuschte sie nicht. Der Bundespräsident ging sogar so weit, von einer „Gefährdung der Demokratie“ zu sprechen. Gauck sagte, er wolle sich zwar nicht in innere Angelegenheiten der Türkei einmischen. Er unterstrich aber auch: „Als Demokrat werde ich dann meine Stimme erheben, wenn ich den Rechtsstaat in Gefahr sehe – auch wenn es nicht der Rechtsstaat des eigenen Landes ist.“

So deutlich wie der deutsche Bundespräsident hat noch kein ausländischer Staatsgast Erdogan die Leviten gelesen. Detailliert ging Gauck die Liste der Themen durch, die für „Erbitterung, Enttäuschung und Empörung“ sorgen: Vorschriften für die Bürger, wie sie zu leben hätten, Bespitzelung durch die Geheimdienste, Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten, die Internetzensur, die Versetzung unliebsamer Staatsanwälte, Repressalien gegen regierungskritische Journalisten.

Seine eigene Lebenserfahrung, so Gauck, habe ihn gelehrt: „Wo die freie Meinungsäußerung eingeschränkt wird, wo Bürger nicht ausreichend informiert, nicht gefragt und nicht beteiligt werden, wachsen Unmut, Unerbittlichkeit und letztlich auch die Bereitschaft zur Gewalt.“

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Gauck sprach schnell Klartext

Zuvor hatten sich Gegner der türkischen Regierung und Sicherheitskräfte am Rande der Veranstaltung mit Bundespräsident Gauck in Ankara ein Gerangel geliefert. Etwa ein Dutzend Aktivisten wurde daran gehindert, in das Gebäude der Technischen Universität einzudringen, wie Augenzeugen berichteten. Studenten beklagten, dass nur ausgesuchte Zuhörer zu der Rede Gaucks eingeladen wurden.

Der Beginn der Ansprache des Staatsoberhaupts vor Studenten verzögerte sich um fast eine Stunde. Ob ein Zusammenhang mit dem Gerangel bestand, blieb unklar. Die Hochschule gehört zu den Hochburgen der Gegner der islamisch-konservativen Regierung.

Schon am Mittag, bei einem gemeinsamen Pressetermin mit dem türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül, hatte Gauck Klartext gesprochen – deutlicher, als es seine Gastgeber wohl erwarteten. Ob man denn Twitter und Youtube ­verbieten müsse, fragte Gauck.

Kritik bei Gül nicht an der richtigen Adresse

Nach dem Thema Meinungsfreiheit widmete sich Gauck der Gewaltenteilung, wieder in Form einer Frage: Warum denn eine „so starke Regierung“ versuchen müsse, die Justiz zu beeinflussen? „Wird das die Demokratie befördern?“ Solche Fragen müsse man sich zumuten, sagte der Bundespräsident.

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Bei Präsident Gül war er damit allerdings nicht ganz an der richtigen Adresse. Angesprochen fühlen durfte sich vielmehr Ministerpräsident Erdogan. Schließlich hatte Gül trotz der von dem Ministerpräsidenten verhängten Twitter-Sperre demonstrativ weiter Kurznachrichten über den Dienst verschickt und dann das Urteil des türkischen Verfassungsgerichts zur Aufhebung der Twitter-Sperre gelobt.

Gauck legte Kranz für Atatürk nieder

Er sei „stolz“ auf diesen Richterspruch, sagte Gül – während Erdogan trotzig erklärte, er müsse das Urteil zwar notgedrungen umsetzen, respektiere es aber nicht. Zu Erdogans Versuchen, missliebige Richter und Staatsanwälte an die Kette zu legen, hatte Gül ebenfalls Distanz erkennen lassen.

Am Montagmorgen hatte Präsident Gauck in Ankara zunächst am Mausoleum des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk einen Kranz niedergelegt. Danach war er von Gül mit militärischen Ehren begrüßt worden.

Nach dem Treffen mit Gül standen ein Gespräch und ein Mittagessen mit Erdogan auf dem Programm des Bundespräsidenten. Bei der Begrüßung wirkten die beiden Männer noch entspannt. Das könnte sich im Laufe des Gesprächs aber geändert haben. Von Erdogan weiß man, dass er auf Kritik zunehmend dünnhäutig reagiert.