Essen. Die Diskussion über das Abitur nach acht Gymnasialjahren (G 8) gewinnt an Fahrt. In NRW drängen Lehrerverbände die rot-grüne Regierung zu Reformen. Eine Rückkehr zur alten Schulform G9 allerdings hält Udo Beckmann, Chef des Verbandes Bildung und Erziehung, für den falschen Weg.

Im Streit um das achtjährige „Turbo-Abitur“ in NRW drängen Lehrerverbände die rot-grüne Regierung zu Reformen. Vor dem Spitzentreffen am 5. Mai forderte VBE-Chef Udo Beckmann im Interview mit unserer Mediengruppe, die Sekundarstufe I am Gymnasium von fünf auf sechs Jahre auszudehnen und die Oberstufe auf zwei Jahre zu verkürzen.

Herr Beckmann, Proteste gegen das Turbo-Abitur nehmen zu. Die Schulministerin stellt es auf den Prüfstand und befragt dazu erneut die Fachleute. Muss NRW zurück von G8 zum G9?

Udo Beckmann: Nein. Ein ständiges Hin und Her überfordert alle. Aber wir haben viel Änderungsbedarf und brauchen Reformen. Auch in NRW ist das achtjährige Gymnasium überhastet eingeführt worden, ohne über Konsequenzen für die Schulstruktur nachzudenken.

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Das geht nicht zuletzt zu Lasten der Schüler von Haupt-, Real- und Gesamtschulen in der Sekundarstufe I, die gern in die gymnasiale Oberstufe wechseln möchten.

Was läuft falsch?

Beckmann: Das Gymnasium wird abgekoppelt. Durch die Verkürzung der Schulzeit um ein Jahr in der Sekundarstufe I hat es faktisch einen eigenen Bildungsgang und ist nicht kompatibel mit den anderen Schulformen, die bei sechs Jahren geblieben sind.

Die Durchlässigkeit im gesamten System ist also nicht mehr gegeben. Dabei wollte Rot-Grün ja gerade diesen Punkt verbessern, weil man festgestellt hatte, dass auf einen Schulaufsteiger acht Absteiger kommen.

Was heißt das für die Schüler?

Beckmann: Seiteneinsteiger müssen heute die Klasse 10 praktisch wiederholen, wenn sie in die gymnasiale Oberstufe hinein wollen. Sie fühlen sich ähnlich wie „Sitzenbleiber“, wenn sie am Gymnasium mit einem jüngeren Jahrgang zusammenkommen. Auch deshalb fordern wir, die Sekundarstufe I am G8-Gymnasium auf sechs Jahre auszudehnen und die Oberstufe auf zwei Jahre zu verkürzen.

Eltern beklagen, dass die verkürzte Schulzeit in der Sekundarstufe I viele Kinder zu sehr belastet.

Beckmann: Das trifft zu, weil die Stundentafel ausgedehnt werden musste. Viele Schüler haben bereits in den unteren Klassen mindestens einmal nachmittags Unterricht und sind durch die Komprimierung des Stoffes sehr stark überfordert. Es wäre deshalb besser gewesen, wenn man das G8 in NRW von Anfang an mit einem konsequenten Ganztag begleitet hätte.

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Wo spüren Sie noch Auswirkungen?

Beckmann: Viele Eltern versuchen verstärkt mit Nachhilfeunterricht ihre Kinder zu unterstützen, damit sie den Stoff bewältigen können. Den Leistungsdruck nehmen wir bis in die Grundschulen wahr. Dort organisieren Eltern vermehrt Nachhilfe für ihre Kinder in Klasse 3 und 4, um ihnen leichter den Übergang ins Gymnasium zu ermöglichen. Das ist keine gute Entwicklung.

Beim doppelten Abi-Jahrgang 2013 haben G8- und G9-Schüler landesweit gleich gut abgeschnitten. Widerlegt das nicht Ihre Kritik am Turbo-Abi?

Beckmann: Nein, und diese Statistik überzeugt mich nicht. Wir wissen gar nicht, wie viele Schüler vorzeitig das Gymnasium verlassen mussten und gar nicht im Abitur ankommen, weil sie dem Druck des G8 nicht standhalten konnten und auf andere Schulformen gewechselt sind. Darüber gibt es leider keine Erhebungen.