Essen. Die Hürden für schlechte Noten werden an Schulen in NRW immer höher, klagen Lehrer. Grund sei das Ziel der Landesregierung, möglichst keinen Schüler mehr sitzen zu lassen. „Wir schleppen jetzt Leute durch, die es früher nicht geschafft hätten“, sagt eine Lehrerin aus dem Kreis Kleve.

Eigentlich ist Markus Koch* einer, der es gut kann mit schwachen Schülern. Hin und wieder hat er ein Auge zugedrückt, wenn die Versetzung nur knapp zu scheitern drohte. Doch das, was er derzeit erlebe, gehe ihm eindeutig zu weit, sagt der Gymnasial-Lehrer. Im Lehrerzimmer werde viel geredet über die „Gleichmacherei auf ganzer Linie“. Nur öffentlich äußern möchte sich niemand. Auch Markus Koch will lieber anonym bleiben.

Im vergangenen Jahr wurde er mehrfach zum Fachkoordinator zitiert. Der Grund: Der Notendurchschnitt seiner Arbeiten war diesem zu schlecht. „Für jede Klausur, die nicht so gut ausfällt, muss ich mich rechtfertigen“, sagt Koch, der an einer Schule am Niederrhein arbeitet. Die Folge: Er spricht sich inzwischen mit Fachkollegen ab, so dass alle ungefähr auf den gleichen Noten-Schnitt kommen. „Von anspruchsvolleren Arbeiten lasse ich mittlerweile die Finger“, sagt Koch.

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Die Klausuren, die er noch vor ein paar Jahren gestellt habe, seien inzwischen ohnehin ungeeignet. „Zu schwer“, erklärt der Pädagoge. „Das Bildungsniveau meiner Schüler hat deutlich nachgelassen. Sie sind längst nicht mehr so aufnahmefähig wie früher.“

„Vergabe schlechter Noten wird nahezu verteufelt“

Seit kurzem müssen die Lehrer in Grundschulen und der Sekundarstufe I zudem für jeden Schüler, dem eine Fünf oder Sechs auf dem Zeugnis droht, einen individuellen Förderplan entwickeln. Auch die Eltern dürfen mitreden. „Wir legen Ziele fest und formulieren Maßnahmen, mit denen der Schüler sich verbessern könnte“, erklärt Koch. Das Ganze klingt ein bisschen wie die Personalentwicklung in einem Unternehmen. „Vom Grundsatz her nicht schlecht, aber viel zu zeitraubend“, klagt Koch. „So schnell gebe ich keine Fünf mehr“, höre man jetzt immer wieder von Kollegen.

Als „völlig übertrieben“ und „pädagogisch unangemessen“ bezeichnet Peter Silbernagel vom Philologenverband NRW die neuen Vorgaben. Der Bürokratieaufwand sei riesig. „Da überlegt sich ein Lehrer zweimal, ob er das auf sich nehmen möchte“, so der Verbandschef. Die Wiederholerquote möglichst niedrig zu halten, sei durchaus sinnvoll. Aber hier werde von politischer Seite enormer Rechtfertigungsdruck auf die Lehrer ausgeübt. Sein Fazit: „Die Vergabe schlechter Noten wird an Schulen in NRW nicht nur außerordentlich erschwert, sondern nahezu verteufelt.“

"Wir schleppen jetzt jeden durch"

Diese Klagen könne er so nicht bestätigen, sagt Jörg Harm, Sprecher des NRW-Schulministeriums. Die individuelle Förderung der Schüler gehöre zum Leitprinzip aller Schulen im Land. „Es geht darum, Sitzenbleiben nach Möglichkeit zu vermeiden.“ Eine generelle Abschaffung wie sie etwa Niedersachen auf den Weg gebracht hat sei in NRW nicht vorgesehen, so Harm. Der Kurs ist jedoch klar: Schulministerin Sylvia Löhrmann hat das Sitzenbleiben einmal als „reine Zeitverschwendung“ bezeichnet. Die Wiederholerquote in NRW ist in den vergangenen Jahren deutlich gesunken – inzwischen liegt sie bei 2,1 Prozent.

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„Wir schleppen jetzt Leute durch, die es früher nicht geschafft hätten“, klagt Martina Heinrich*, Gymnasial-Lehrerin im Kreis Kleve, die ebenfalls anonym bleiben möchte. Sich um schwache, aber lernwillige Kinder zu kümmern, sei für sie immer selbstverständlich gewesen. Aber nun müsse sie auch um Totalverweigerer kämpfen. Jene Schüler also, die kaum bis gar kein Interesse am Schulstoff zeigten.„Das ärgert mich“, sagt Heinrich. „Diese Zeit fehlt mir, um guten Unterricht für die anderen zu planen.“

Zudem hat sie wenig Hoffnung, dass ein Förderplan diesen Schülern helfen könnte. „Das erhöht zwar kurzfristig den Lerndruck, wird aber auf lange Sicht vermutlich nichts bringen“, meint Heinrich.

Angst vor dem Widerspruch der Eltern

„Bessere Noten werden um jeden Preis durchgeboxt“, schimpft auch Lehrer Koch. Hinzu komme die Angst vor dem Widerspruch der Eltern. In seiner Schule müssen Klassenarbeiten inzwischen mit einem detaillierten Bewertungsbogen versehen werden, in dem der Lehrer jeden einzelnen Korrektur-Schritt dokumentiert. Auch die Zentralabiturs-Klausuren seien zumindest in den Geisteswissenschaften so konzipiert, dass es fast unmöglich scheint, eine Fünf zu schreiben, sagt Koch. „Der Anspruch bliebt auf der Strecke.“

Silbernagel sieht ein weiteres Problem: „Schlechte Noten bieten den Schülern Orientierungshilfe.“ Wenn die Schule nicht mehr deutlich zeige, wo die Stärken und Schwächen des Einzelnen liegen, werde der Zeitpunkt einer „ehrlichen Bilanz“ immer weiter nach hinten geschoben, so Silbernagel: „Das böse Erwachen kommt dann später – bei der Ausbildung oder im Studium.“

*Namen von der Redaktion geändert