Düsseldorf. . Bundesweit geht der Trend zum neunjährigen Gymnasium. Auch Nordrhein-Westfalen gerät nun in diesen Sog. Die Lehrerverbände sparen nicht mit Kritik an G8, der Ärger vieler Eltern über die verkürzte Schulzeit ist auch hierzulande groß. Doch ebenso groß ist die Angst vor einer Rückkehr in alte Schul-Zeiten.

Der 19. Juli 2011 war ein denkwürdiger Tag. In ungewohnter Harmonie zelebrierten Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, CDU-Landeschef Norbert Röttgen und Schulministerin Sylvia Löhrmann ihren Auftritt. Man gab sich gelöst und überhäufte sich mit Komplimenten. Anlass der rot-schwarz-grünen Feierstunde: die Sekundarschule war geboren, der „Schulfrieden“ nach langem Streit bis 2023 verankert. Heute aber, keine drei Jahre danach, wankt die Schulstruktur an einem Punkt, den damals niemand auf der Rechnung hatte. Kippt das Turbo-Abi?

Plötzlich scheint nichts mehr unmöglich. Noch findet sich in Nordrhein-Westfalen kein namhafter Verbandschef, der die komplette Rückkehr zum Abi nach neun Jahren an Gymnasien fordert, noch meldet sich kein führender Politiker, der den Abschied vom G8 betreibt. Doch es herrscht allgemeine Verunsicherung. Denn wie stark sich der Elternwille, auf den sich Parteien gern berufen, noch Gehör verschafft für eine Renaissance von G9, ist schwer kalkulierbar.

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Was gerade geschieht, lässt sich an Löhrmann ablesen. Mit der eiligen Einberufung aller Fachleute an den Runden Tisch für den 5. Mai geht sie auf Nummer sicher. Ein Schachzug der zuletzt kritisierten Grünen, auch aus der Sorge heraus, dass der Rückhalt schwindet und sie mit ihrem Bekenntnis zum G8 am Ende allein dasteht. Verbal hat Löhrmann bereits abgerüstet. „Wir können nicht alle paar Jahre das ganze System auf den Kopf stellen“, lehnte sie Ende Februar einen Schwenk zum G9 ab. Jetzt klingt sie defensiver, möchte sich erst einmal „vergewissern“, ob der „breite Konsens“ pro G8 noch gilt.

Geschlossen wurde er vor vier Jahren. Nur 13 der rund 630 Gymnasien nutzten damals das Angebot, den neunjährigen Bildungsgang zu erproben. Alle anderen blieben bei G8. Was auch blieb, waren Klagen von Eltern über einen stressbefrachteten Schulalltag. Nun aber gerät NRW in einen Sog: In Niedersachsen ist die Rückkehr zum neunjährigen Abi beschlossene Sache, in Hessen bietet bald nur noch jedes fünfte Gymnasium das Turbo-Abi an. In Hamburg und Bayern sind Volksentscheide pro G9 auf den Weg gebracht.

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Kritik der Lehrerverbände

Über das Dogma des früheren „Zukunftsministers“ Jürgen Rüttgers ist die Zeit längst hinweggegangen. „Die Deutschen sind zu alt, wenn sie in den Beruf kommen“, beklagte der CDU-Politiker 1998 den Umstand, dass junge Leute hierzulande erst mit durchschnittlich 28 Jahren die Uni verließen. Die Republik drückte aufs Tempo, auch an den Schulen. SPD und Grüne in NRW schrieben sich die – rein ökonomische – Zeitgeist-Parole auf die Fahnen, das Bildungssystem müsse international wettbewerbsfähig sein.

Davon redet im aktuellen Aufbegehren gegen das G8 keiner mehr. Die allgemeine Abrechnung mit dem achtjährigen Gymnasium wird zum Selbstläufer. Schüler fühlen sich durch eine bis in den Nachmittag ausgedehnte Stundentafel überfordert. Eltern berichten von kopfschmerzgeplagten Kindern, die zu wenig Freizeit haben. Sport- und Musikvereine jammern, dass der Nachwuchs ausbleibt. Kein Unheil gibt es scheinbar in der Welt, das man nicht dem ungeliebten Turbo-Abitur anlasten könnte.

Scharfe Kritik kommt aber auch von außen. Udo Beckmann, Chef des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), bemängelt als Folge von G8 die „fehlende Durchlässigkeit“ im gesamten Schulsystem in Nordrhein-Westfalen. Seiteneinsteigern von der Real- oder Gesamtschule werde ein Wechsel in die gymnasiale Oberstufe unnötig erschwert. Auch Dorothea Schäfer, Landeschefin der Lehrergewerkschaft GEW, beklagt die „ungute“ Entwicklung, dass das Gymnasium „abgekoppelt“ werde.

Dringenden Reformbedarf beim G8 sehen alle Akteure – weiter gehen sie bisher nicht. „Alles zurückzudrehen ist keine Lösung“, warnt Beckmann ebenso wie Peter Silbernagel, der als Vorsitzender des Philologenverbands das Abitur nach acht Jahren nicht mehr räumen will. Doch der Konsens könnte sich als brüchig erweisen. Entscheidend wird die Frage sein, ob er dem Druck aus der Elternschaft standhält.