Genf/Brüssel/Berlin. Zum Entsetzen der Schweizer Regierung und Wirtschaft wollen die Eidgenossen die Zuwanderung drosseln. Die Regierung in Bern muss nun binnen drei Jahren das Anliegen umsetzen. Reaktionen aus dem Ausland zeigen: Dem Land droht ein Abseits in Europa.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erwartet große Probleme durch das Schweizer Votum für eine strikte Begrenzung der Zuwanderung. "Die Bundesregierung nimmt das Ergebnis dieser Volksabstimmung zur Kenntnis und respektiert es, es ist aber durchaus auch so, dass aus unserer Sicht dieses Ergebnis erhebliche Probleme aufwirft", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin. Es sei an der Schweiz, auf die Europäische Union zuzugehen und ihr darzulegen, wie sie mit dem Ergebnis umgehen wolle. Es würden schwierige Gespräche zu führen sein.
Merkels Parteifreund Elmar Brok, der den Auswärtigen Ausschuss des Europaparlaments leitet, forderte sogar Maßnahmen der EU gegen die Schweiz: "Wir können das nicht widerspruchslos hinnehmen", sagte Brok dem "Kölner Stadt-Anzeiger". "Das ist schon ein Schlag", sagte Brok. Die Schweiz genieße große Vorteile, "weil sie ein Stückchen in die Europäische Union integriert ist" und brauche "qualifizierte Arbeitskräfte". In diesem Sinne nannte Brok den Ausgang der Abstimmung "nicht verständlich". Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sagte in der ARD voraus, die Abstimmung vom Sonntag werde "eine Menge Schwierigkeiten für die Schweiz verursachen".
Abkommen können nicht einzeln aufgekündigt werden
Die EU-Kommission erklärte, sie bedaure den Ausgang der Volksabstimmung und werde "die Folgen dieser Initiative für die Gesamtbeziehungen analysieren". Sie wies aber auch darauf hin, dass die sieben bilateralen Abkommen über Bereiche wie Freizügigkeit, Verkehr, Landwirtschaft, Forschung und öffentliche Ausschreibungen aus dem Jahr 1999 rechtlich miteinander verknüpft seien und nicht einzeln aufgekündigt werden könnten. In einer offiziellen Erklärung teilte die Kommission mit, der Volksentscheid verletze das "Prinzip des freien Personenverkehrs".
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Schäuble forderte auch für die deutsche Politik Lehren aus dem Schweizer Ja für eine Begrenzung der Zuwanderung. "Es zeigt natürlich ein bisschen, dass in dieser Welt der Globalisierung die Menschen zunehmend Unbehagen gegenüber einer unbegrenzten Freizügigkeit haben", sagte Schäuble in der ARD-Sendung "Bericht aus Berlin". Der Vorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger, bezeichnete das Referendum als schweren Fehler. "Was Europa als letztes braucht, sind neue Mauern", sagte Riexinger "Handelsblatt Online".
Regierung, Parteien und Wirtschaft waren dagegen
In der Volksabstimmung unterstützten am Sonntag 50,3 Prozent eine Initiative der national-konservativen Schweizer Volkspartei (SVP) "gegen Masseneinwanderung". Das Ergebnis kam überraschend. Die Regierung in Bern muss nun binnen drei Jahren das Anliegen umsetzen. Als assoziierter EU-Partner würde die Exportnation Schweiz damit gegen das Recht der Personenfreizügigkeit verstoßen.
In der Schweiz hatten Regierung, Parteien und Wirtschaft die aus ihrer Sicht schädliche Initiative bekämpft. Bis zuletzt lagen die Gegner der Initiative in Umfragen vorn. Sie sehen den Erfolg der Schweiz durch Abschottung aufs Spiel gesetzt. Die Wahlbeteiligung war mit 56 Prozent sehr hoch.
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Besonders hoher Ausländeranteil in der Schweiz
Die Schweiz hat mit 23 Prozent einen besonders hohen Ausländeranteil. Das Land wächst durch Einwanderer jährlich um rund 80.000 Menschen. Die seit 2000 vergleichsweise hohe Netto-Zuwanderung wurde ausgelöst durch den Bedarf Schweizer Firmen nicht zuletzt an deutschen Fachkräften. Durch die Wirtschaftskrise in Südeuropa suchten vor allem Portugiesen ihr Glück in der Eidgenossenschaft.
Eine konkrete Umsetzung der Initiative ist nach Einschätzung des Schweizer Politologen Laurent Bernhard kaum abzusehen. "Der Initiativtext lässt einen beträchtlichen Spielraum offen", sagte Bernhard am Sonntag dem Portal bazonline.ch der "Basler Zeitung". Vieles werde sich nun auf dem diplomatischen Parkett abspielen. "Ob die EU die bilateralen Verträge mit der Schweiz tatsächlich einseitig aufkündigt, lässt sich mit dem heutigen Ja nicht sagen."
Nach Vorstellungen der Schweizer Initiative sollen künftig die Kantone eine Höchstzahl von Zuwanderern - vom Akademiker bis zum Asylbewerber - unter Berücksichtigungen der "gesamtwirtschaftlichen Interessen" festlegen. Argumente der Befürworter waren, dass durch die hohe Zuwanderung die Infrastruktur überlastet würde, die Mieten stiegen, und die eigene Bevölkerung am Arbeitsmarkt benachteiligt werde.
Vertrags-Paket zwischen der Schweiz und der EU steht auf dem Spiel
Aufgrund der "Guillotine-Klausel" - ein Vertrag kann nicht einzeln gekündigt werden - steht ein Paket von insgesamt sieben Verträgen zwischen der Schweiz und der EU auf dem Spiel. Darin ist nicht nur das Recht auf freien Wohn- und Arbeitsort, sondern auch der privilegierte Zugang der eidgenössischen Wirtschaft zum EU-Binnenmarkt geregelt. Damit wird bisher der Warenverkehr mit der EU deutlich erleichtert.
Ein Aufkündigen des aus dem Jahr 1999 stammenden Pakets hätte auch erhebliche Folgen für die Forschungslandschaft, da keine EU-Mittel mehr fließen würden.
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Die SVP hofft, dass es die EU nicht zu einem weitgehenden Bruch mit der Schweiz kommen lässt. Die wirtschaftlichen Beziehungen seien zu eng. Die Eidgenossenschaft ist einer der wichtigsten Handelspartner der EU. Umgekehrt gehen über die Hälfte der Schweizer Exporte in die EU, wo die Schweizer Wirtschaft jeden dritten Franken verdient.
Viele Deutsche leben in der Schweiz
Die Deutschen stellen mit rund 300.000 den Großteil der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz. Ihr Zuzug hat sich in den vergangenen Jahren aber bereits wieder abgeschwächt. Es handelt sich in der Regel um gut ausgebildetes Fachpersonal. Sollte es zur Umsetzung der Initiative kommen, müssten sie damit rechnen, dass ihr Arbeitsverhältnis vor einer Verlängerung von den Schweizer Behörden überprüft wird.
Der Weichenstellung in der Schweiz gewinnt die Politik im Anrainerland Baden-Württemberg durchaus positive Seiten ab. Der Südwesten könne "sich auf die Rückkehr vieler gut ausgebildeter Fachkräfte freuen, vor allem auch in den Gesundheitsberufen", sagte der Stuttgarter Europaminister Peter Friedrich (SPD) vor wenigen Tagen.
In der Vergangenheit gab es bereits mehrere Volksabstimmungen in der Schweiz, die sich mit Fragen der Zuwanderung und der Personenfreizügigkeit beschäftigt hatten. Bisher waren alle mehr oder weniger deutlich abgelehnt worden. (dpa/afp)