Essen. Seit Wochen lässt Edward Snowden aus dem Exil immer neue Enthüllungen über die NSA-Spione durchsickern. Er selbst blieb dabei bislang im Hintergrund. Nun schickt der Ex-Spion über die ARD liebe Grüße aus Moskau - und deutet an, dass Merkel nicht das einzige prominente Abhöropfer sein könnte.
Der Mann, der in den USA zumindest gefühlt der aktuelle Staatsfeind Nummer eins ist, trägt eine randlose Brille und zum cremeweißen Hemd ein dunkelbraunes, etwas zu groß geratenes Sacko, das ihm um die schmalen Schultern schlackert. Er sitzt vermutlich in einem Moskauer Hotelzimmer, so genau weiß man das nicht. Denn Edward Snowden, 30 Jahre jung, geboren in einem Kaff namens Elizabeth City in North Carolina, ist die wohl brisanteste Personalie dieser Tage.
Die USA wollen dem Mann, der die geheimsten Geheimnisse der NSA offenbarte, als Verräter den Prozess machen; nicht wenige andere sehen in ihm dagegen einen Helden und Märtyrer. Für Marina Weisband, Ex-Frontfrau der Piraten, hat Snowden „sein Leben geopfert“ für die Wahrheit. Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele hält ihn gar für „einen der größten Aufklärer der Geschichte“. Geht’s noch größer?!
Warum versteckt die ARD den Snowden-Coup im Spätprogramm?
ARD-Reporter Hubert Seipel hatte nun die Chance, den Ex-NSA-Mann in Moskau zu treffen und zu befragen. Ein journalistischer Coup, keine Frage. Aber warum, so fragt man sich, versteckt der Sender dann das Interview an einem Sendeplatz jenseits der 23 Uhr? Und warum hält die ARD fest am Schema F und sendet vor dem Interview die unvermeidliche sonntägliche Talkrunde mit Günther Jauch, ebenfalls zum Thema Snowden, deren Erkenntnisgewinn sich freilich in engen Grenzen hielt?
Das Interview macht erstmals offensichtlich, was man bisher nur vermuten konnte: Hinter der etwas milchgesichtigen, blassen äußeren Persönlichkeit namens Snowden verbirgt sich mitnichten ein naiver Idealist mit unschuldiger Weltverbesserer-Attitüde; vielmehr weiß der Enthüller sehr professionell und virtuos mit seinem intimen Wissen umzugehen.
Merkel nicht das einzige prominente NSA-Opfer?
Frage Reporter Seipel: Wurden neben Bundeskanzlerin, deren Mobiltelefon die NSA bekanntlich belauschte, noch andere hochrangige deutsche Persönlichkeiten von den Amerikanern bespitzelt?
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Snowden antwortet mit einer Gegenfrage – die mehr sagt als jede Aussage: Wie wahrscheinlich es denn wohl sei, dass die Kanzlerin das „einzige bekannte deutsche Gesicht“ sei, das die NSA abhörte? Dass keine anderen Politiker, etwa Minister, belauscht wurden? Doch wohl „nicht sehr wahrscheinlich“, wie er gleich nachschiebt. Er wolle es aber den Journalisten, die Einblick in seine NSA-Unterlagen haben, überlassen, wann welche Informationen an die Öffentlichkeit gegeben werden. Im Klartext: Da lauert noch so mancher politische Sprengsatz.
Snowden hat erkannt, "dass es kein anderer tun würde"
Über die Motive, die den NSA-Mann Snowden letztlich zum Enthüller machten, ist viel spekuliert worden. Auf Reporter Seipelts Frage nach dem „Warum?“ verliert Snowden sich nicht in nebulösen moralischen Rechtfertigungen, sondern sagt knapp: Er habe erkannt, „dass es kein anderer tun würde“. Er habe erlebt, wie der NSA-Chef vor einem Kongressausschuss schamlos die Unwahrheit gesagt habe: „Es gibt keine Rettung für einen Geheimdienst der glaubt, Regierung und Öffentlichkeit belügen zu können.“
Außerdem, so Snowden weiter, habe er die große Gefahr der „Privatisierung hohheitlicher Aufgaben“ gesehen. „Spionage und Aufklärung“ in der Hand kommerzieller Unternehmen, das sei letztlich der Anstoß für seinen Seitenwechsel gewesen: „Es war das Richtige. Ich habe keine schlaflosen Nächte deswegen.“ Und: Er habe immer allein gehandelt, ohne Komplizen und in Auftrag von niemandem.
Snowden schläft "sehr gut" - trotz Todesdrohungen
Apropos Privatunternehmen. Da legt Snowden im ARD-Interview nach. Er sei davon überzeugt, dass die NSA auch Wirtschaftsspionage betreibe, sagt er: „Wenn es etwa bei Siemens Informationen gibt, die dem nationalen Interesse der Vereinigten Staaten nutzen, aber nichts mit der nationalen Sicherheit zu tun haben, dann nehmen sie sich diese Informationen trotzdem.“ Auch das hatte man nach all den Enthüllungen der vergangenen Monate bereits vermutet. Doch so unaufgeregt wie Snowden das ungenierte Treiben der NSA schildert, das macht einen dann doch sprachlos.
Snowden berichtet zudem über Todesdrohungen gegen ihn. Als Beleg nennt er einen Artikel auf der Internetplattform „buzzfeed“. Mitglieder des Pentagon und der NSA hätten dem Reporter erzählt, dass sie Snowden umbringen wollten. „Diese Leute, und das sind Regierungsbeamte, haben gesagt, sie würden mir gerne eine Kugel in den Kopf jagen oder mich vergiften.“ Gleichwohl schlafe er „sehr gut“.
Noch sitzt Edward Snowden in Moskau fest
Paranoia? Oder reale Gefahr? Für Jauch-Gast John Kornblum, ehemaliger US-Botschafter in Berlin, sind Snowdens Vorwürfe Unsinn: „Ich halte das für ausgeschlossen“, sagt Kornblum - unter dem spöttischen Gelächter des Publikums.
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Edward Snowden sitzt vorerst weiter in Moskau fest. Doch auf Dauer wird Russlands Präsident Putin nicht die Hand über ihn halten wollen. Sein Aufenthalt dort ist auf ein Jahr befristet. Dass der Enthüller in Deutschland Asyl erhält, wie es etwa Piratin Weisband fordert, dürfte ein Gedankenspiel bleiben. „Wo sehen Sie Edward Snowden in zehn Jahren?“, fragt Jauch seine Gäste. Kritiker Kornblum glaubt: „In den USA. Und nicht im Gefängnis.“
Wird hinter den Kulissen schon um einen Deal gefeilscht?
Tatsächlich spricht einiges dafür, dass hinter den Kulissen bereits um einen Deal zwischen Snowdens Anwälten und der Obama-Regierung gefeilscht wird. Snowden selbst sagte der ARD, er hoffe in absehbarer Zeit „die Sache zu Ende bringen zu können“, und zwar auf eine für alle Seiten zufriedenstellende Weise. Von einem Gericht in USA will er sich jedenfalls nicht verantworten – denn dies wäre „ein Schauprozess“ gegen ihn.
Hat der „Fall Snowden“ also ein Happy-End? Dem Mann aus Elizabeth City, North Carolina, wäre es zu wünschen. Denn auch wenn er weder Held noch Märtyrer ist – er hat uns Einblicke in ein riesiges System von Spionage und Spitzelei eröffnet, dessen Ausmaße man sich zuvor nicht ansatzweise vorstellen konnte oder wollte. Und wie es scheint, kennen wir immer noch nicht alle Geheimnisse.