Berlin. . 300 000 Besucher beim Parteifest feiern in einer „Jetzt-erst-recht“-Stimmung gegen den Negativtrend an. Der Kanzlerkandidat genießt die Sympathie, die die SPD-Mitglieder ihm entgegenbringen. Andere spekulieren über die Große Koalition.
Peer Steinbrück scheint tief beeindruckt. „Ich habe so etwas noch nicht gesehen“, ruft der SPD-Kanzlerkandidat Zehntausenden Zuhörern zu, die vom Brandenburger Tor bis weit in Richtung Siegessäule reichen. Einige schwenken „Peer“-Plakate, andere jubeln lautstark dem SPD-Frontmann zu. „Das ist ja fast wie zu Zeiten von Willy Brandt“, meint ein Zuhörer zu seiner Begleiterin.
So viel SPD-Glückseligkeit war lange nicht wie am Wochenende auf dem „Deutschlandfest“ der Partei in Berlin. Miese Umfragewerte hin oder her. Rund zwei Millionen Euro haben sich die Genossen die zweitägige Sause zum 150. Geburtstag der Sozialdemokratie kosten lassen. Aus allen Teilen des Landes sind bis zu 300.000 SPD-Mitglieder- und Sympathisanten angereist, um zu feiern – und zu fühlen, dass es die Partei noch gibt.
Sigmar und die Detektive
Die Hüpfburgen wackeln, das Riesenrad dreht unentwegt seine Runden, Bier fließt, Bratwürste dampfen. Wer möchte, der kann mit den SPD-Spitzen diskutieren, den olivgrünen Dienst-Käfer des West-Berliner Nachkriegsbürgermeisters Ernst Reuter bestaunen oder bei den Jusos goldene Gartenzwerge, die den Hitlergruß machen, über den Haufen kegeln.
NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hat sich im Lesezelt spontan auf den Boden gehockt. Umringt von kleinen Mädchen und Jungen liest die Landesmutter nun „Neues vom Franz“ von Christine Nöstlinger vor. SPD-Chef Sigmar Gabriel hat sich für „Emil und die Detektive“ entschieden“. Was man von Erich Kästners Buch lernen könne? „Man muss zusammenhalten und darf nicht aufgeben.“ Einen besseren Rat hätte Gabriel sich selbst und seiner eigenen Partei kaum geben können, die Steinbrück manchen Knüppel zwischen die Beine geworfen hat.
Die Parteiseele gestreichelt
Diesem war im Juni der Kragen geplatzt. In einem Interview hatte er die Genossen, darunter ausdrücklich Gabriel, zur Loyalität aufgefordert. Immerhin, auf der Geburtstagsfeier funktioniert die Harmonie-Show. Demonstrativ hat sich die Parteispitze hinter Steinbrück aufgestellt, während er die Hauptrede hält. Erst etwas die SPD-Seele mit Parteigeschichte streicheln, dann schaltet Steinbrück in den Wahlkampfmodus.
Bei einem Wahlsieg wolle er den gesetzlichen Mindeststundenlohn von 8,50 Euro einführen. Immer wieder redet er vom Aufbruch, den er schaffen will. Neu ist das nicht. Steinbrücks Kernbotschaft für die gebeutelte Partei: „Am 22. September ist Wahltag. Und ich will Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden.“
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Wären da nur nicht die Zweifel, die inzwischen auch SPD-Politiker aus der zweiten Reihe immer lauter äußern. So hat etwa Finanzpolitiker Lothar Binding am Wochenende davor gewarnt, einem Bündnis mit der Union einen Riegel vorzuschieben. „Es ist immer ein schwerer Fehler, Koalitionen auszuschließen“, mahnte er. „Wir können unseren Wählern nicht sagen, wenn Rot-Grün nicht klappt, gehen wir auf jeden Fall in die Opposition“, sagte der Bundestagsabgeordnete Michael Roth.
Grüße von der Kanzlerin
Auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) will sich die Tür für eine Zweckehe mit der SPD offen lassen. „Ich habe einmal eine Große Koalition geführt, so dass ich völlig unglaubwürdig wäre, wenn ich sie ausschlösse“, sagte Merkel der FAZ. Damit versetzte sie nicht nur die FDP in helle Alarmbereitschaft, sondern schickte auch vergiftete Liebesgrüße Richtung SPD. Kandidat Steinbrück hat stets ausgeschlossen, in einer Großen Koalition in die Regierung einzutreten.
Wahlkampf mit der SPD
Anstatt mit der Union zu flirten, setzen auch viele Sozialdemokraten auf ein „Jetzt erst recht“. „Ich glaube, dass ein Ruck durch die Partei geht“, meint Marlis Fry vom SPD-Ortsverein Holthausen, die mit etwa 65 weiteren Hattingern nach Berlin gereist ist. Steinbrück habe mit seiner Rede manchen Genossen aufgerüttelt, hofft sie und fordert: „Wir dürfen den Kopf jetzt nicht in den Sand stecken.“
Treffender hätte es auch Peer Steinbrück nicht sagen können.