Istanbul. . Es war ein politisches Mammutverfahren: 275 Angeklagte - zumeist Angehörige der alten, kemalistischen Elite - mussten sich wegen angeblicher Umsturzpläne gegen die türkische Regierung vor Gericht verantworten. Nach fast fünf Jahren Verhandlungsdauer wurden nun die Urteile verkündet - die das Land tief spalten.

Nach fast fünf Jahren Verhandlungsdauer hat das Gericht im Strafverfahren gegen mutmaßliche Mitglieder des Geheimbundes Ergenekon am Montag die Urteile verkündet. Den Angeklagten wurde vorgeworfen, auf einen gewaltsamen Sturz der Regierung des islamisch-konservativen Ministerpräsidenten Erdogan hingearbeitet zu haben.

General a.D. Veli Kücük, eine der Schlüsselfiguren der Verschwörergruppe, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Auch Ex-Generalstabschef Ilker Basbug, der die Verschwörer gedeckt haben soll, muss lebenslang ins Gefängnis. Gegen die meisten anderen der 275 Angeklagten verhängten die Richter zehn bis 20 Jahre Haft, 21 wurden freigesprochen.

Fast 2500 Seiten umfasste die Anklageschrift. An 600 Tagen wurde verhandelt. Vor Gericht standen anfangs 86 Angeklagte, deren Zahl im Laufe des Prozesses auf 275 anwuchs – ein Mammutverfahren, für das im Hochsicherheitsgefängnis von Silivri eigens ein Verhandlungssaal gebaut werden musste. 66 der Angeklagten saßen in Untersuchungshaft, einige von ihnen seit fast fünf Jahren. Drei Angeklagte verstarben während des Verfahrens.

Angeklagte beteuerten ihre Unschuld

Es war ein hoch politischer Prozess, der die Türkei gespalten hat. Er ist Teil des erbitterten Machtkampfes zwischen der islamisch-konservativen Regierung von Ministerpräsident Erdogan auf der einen und der kemalistischen Elite sowie dem Militär auf der anderen Seite. Erdogans Gegner warfen der Regierung vor, die Vorwürfe seien konstruiert. Erdogan wolle mit dem Strafverfahren Kritiker einschüchtern.

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Begonnen hatte die Ergenekon-Affäre 2007, als Fahnder in einem Haus in Istanbul ein Waffenlager aushoben. Die Waffen wurden dem Geheimbund Ergenekon zugeschrieben, einer nationalistischen Untergrundorganisation, die seit Erdogans Amtsantritt 2003 auf den Sturz des Premiers hingearbeitet haben soll. Zu den Verschwörern gehörten Militärs, Anwälte, Akademiker, Geschäftsleute, Oppositionspolitiker und Journalisten.

Der Name der Organisation bezieht sich auf den Ergenekon-Mythos. Die vor allem von Ultra-Nationalisten tradierte Sage erzählt, wie die Türken in einem Gebirgstal Zentralasiens Zuflucht vor Feinden suchten, dort erstarkten und schließlich von einer grauen Wölfin zurück in die Steppe und zu neuer Größe geführt wurden.

Ziel war angeblich, die Türkei ins Chaos zu stürzen

Nach der Aushebung des Waffenlagers in Istanbul wurden in den folgenden Monaten bei zahlreichen Razzien Verdächtige festgenommen und belastende Dokumente sichergestellt. Die Verschwörer sollen geplant haben, Dutzende Prominente wie den Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk sowie Unternehmer und Politiker zu ermorden, gewalttätige Massenproteste zu inszenieren, Anschläge zu verüben und einen bewaffneten Konflikt mit Griechenland zu provozieren.

Für die Ausführung der geplanten Attentate bildete der Geheimbund laut Anklage zwölf Spezialeinheiten. Das Ziel soll gewesen sein, die Türkei in ein Chaos zu stürzen und so den Boden für einen Militärputsch zu bereiten. Die Angeklagten wiesen die Vorwürfe zurück. Auch der türkische Generalstab bestritt jede Verwicklung in die angebliche Verschwörung.