Istanbul. .
Sie waren ein Machtfaktor, mit dem man rechnen musste: fünf gewählte Regierungen haben die türkischen Militärs in den vergangenen fünf Jahrzehnten gestürzt. Auch den islamisch-konservativen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan, der das Land seit 2003 regiert, versuchten sie zu entmachten. Aber an Erdogan bissen sich die Generäle die Zähne aus.
Der jahrelange Machtkampf ist entschieden: am Freitagabend trat die Führung der Streitkräfte geschlossen zurück. Das hat es in der Geschichte des Landes noch nicht gegeben. Vordergründiger Anlass war der Streit um die Beförderung von Offizieren, die beschuldigt werden, Putschpläne geschmiedet zu haben. Tatsächlich geht es um viel mehr: Der Generalstab kapituliert vor Erdogan.
„Geheime Agenda“
Seit der Gründung der Republik 1923 durch General Mustafa Kemal, den späteren Atatürk, verstehen sich die türkischen Militärs als Wächter über die weltliche Staatsordnung. Ihr größter Feind stand seit jeher nicht jenseits der Grenzen sondern im Innern: die islamischen Eiferer. Zuletzt intervenierten die Generäle 1997: sie hebelten den islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan aus dem Amt, den politischen Ziehvater Erdogans.
Dem heutigen Premier misstraute das Militär ebenfalls: Erdogan verfolge eine „geheime Agenda“, hieß es, die schleichende Islamisierung des Staates. 2007 versuchten die Militärs, die Wahl des Erdogan-Weggefährten Abdullah Gül zum Staatspräsidenten zu verhindern. Der Machtkampf führte zu Neuwahlen, die Erdogan triumphal mit 47 Prozent gewann – Gül wurde Präsident. Im Jahr darauf initiierten die Generäle vor dem Verfassungsgericht ein Verbotsverfahren gegen Erdogans Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP). Der Versuch scheiterte knapp, für ein Verbot fehlte im elfköpfigen Richterkollegium nur eine Stimme.
Geheimbund „Ergenekon“
Schritt für Schritt drängte Erdogan seither den Einfluss der Militärs zurück. Dramatische Dimensionen bekam der Machtkampf in den zurückliegenden vier Jahren mit den Ermittlungen gegen den mutmaßlichen Geheimbund „Ergenekon“, dem Putschpläne gegen die Regierung Erdogan vorgeworfen werden. Mittlerweile sitzen 250 ehemalige und aktive Offiziere der türkischen Streitkräfte in Untersuchungshaft, unter ihnen 42 aktive Generäle – ein Zehntel der Streitkräfteführung.
An diesem Montag sollte in Ankara der Oberste Militärrat zusammentreten. Dem Gremium unter Güls Vorsitz gehören die Spitzen des Generalstabs, der Ministerpräsident und der Verteidigungsminister an. Zweimal im Jahr kommt es zusammen, um über Beförderungen zu entscheiden. In früheren Jahrzehnten regelten die Militärs das in eigener Regie, die Politiker nickten die Personalvorschläge des Generalstabs ab. Nicht unter Gül und Erdogan.
Das Maß war voll
Diesmal sollte es auch um die inhaftierten Offiziere gehen: die Militärs wollten sie regulär befördern, Erdogan bestand darauf, sie in den Ruhestand zu versetzen. Als am Freitag auch noch ein Staatsanwalt die Festnahme von 22 Verdächtigen beantragte, die an einer Internetkampagne gegen die Regierung beteiligt gewesen sein sollen, darunter der Kommandeur der 1. Armee sowie sechs Generäle und Admiräle, war das Maß voll: Generalstabschef Isik Kosaner und die Oberkommandierenden der Landstreitkräfte, der Marine und der Luftwaffe erklärten ihren Rücktritt – die letzteren drei wären allerdings ohnehin am Montag pensioniert worden.
Staatspräsident Gül ernannte den Chef der paramilitärischen Gendarmerie zum neuen Kommandeur der Landstreitkräfte und amtierenden Generalstabschef. „Es gibt keine Krise“, so Gül. Für Erdogan ist die Kapitulation des Generalstabs ein großer Erfolg. Er kann jetzt die Streitkräfteführung neu besetzen – mit Offizieren seiner Wahl.