Istanbul. Der türkische Ministerpräsident Erdogan misst sich mit den mächtigen Militärs. Eine Verhaftungswelle verschärft die Spannungen - auch ehemalige Vier-Sterne-Generäle blieben davon nicht verschont.
Am Montag (7.7.) sollte es losgehen: mit „spontanen” Massenprotesten in 40 türkischen Städten, mit Heckenschützen, die ein Blutbad anrichten, mit gedungenen Killern, die bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ermorden – ein bürgerkriegsähnliches Szenario.
Glaubt man türkischen Medien, dann wurde nur ganz knapp ein drohender Staatsstreich abgewendet. Am vergangenen Dienstagfrüh rückten in vier türkischen Städten rund 6000 Ermittler aus. Auf der Fahndungsliste standen 25 Männer, unter ihnen Sener Eruygur und Hursit Tolon, zwei pensionierte Vier-Sterne Generäle.
Mythos der Turkvölker
Die mutmaßlichen Verschwörer sollen geplant haben, das Land ins Chaos zu stürzen, um einen Putsch zu provozieren. Kein ganz abwegiges Kalkül – schließlich haben die türkischen Militärs seit 1960 im Schnitt alle zehn Jahre eine gewählte Regierung gestürzt, zuletzt den islamistischen Premier Erbakan 1997. Insofern könnte der nächste Staatsstreich fällig sein. „Ich bin ein General” erinnerte Hursit Tolon die Fahnder, als die ihn abholten. Doch das schien die Polizisten nicht zu einschüchtern. Auch die Haftrichter zeigten sich unbeeindruckt: Am Wochenende erließen sie Haftbefehle gegen die beiden Ex-Generäle. Sie sollen führende Rollen in der Verschwörergruppe spielen, die sich „Ergenekon” nennt. So heißt ein Mythos über den Aufstieg der Turkvölker.
Der kemalistische Oppositionsführer Deniz Baykal suchte sofort den Schulterschluss mit den bedrängten Generälen: Die Putschpläne seien eine Erfindung regierungsnaher Medien, ein „Racheakt” der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, der ein Verbot durch das Verfassungsgericht droht. Sie greife in ihrem Existenzkampf nun zu den „Methoden von Hitler und Stalin”, meint Baykal.
Richtig ist: Die Berichte über die angebliche Verschwörung erschienen zuerst in den regierungsnahen Blättern „Sabah” und „Yeni Safak”. Andererseits ist kaum vorstellbar, dass die Haftrichter ohne triftige Anhaltspunkte zwei prominente Ex-Generäle hinter Gitter schicken.
Wie reagieren die Militärs?
Aber was an den Putsch-Szenarien wirklich dran ist, wird man wohl frühestens erfahren, wenn die Anklage im Fall „Ergenekon” vorliegt. Sie war für den vergangenen Freitag angekündigt, lässt aber weiter auf sich warten. Kritiker halten das für skandalös – schließlich sitzen einige der 45 Verdächtigten bereits seit über einem Jahr in Untersuchungshaft. Einer der Inhaftierten, Kuddusi Okkir, der an Lungenkrebs erkrankt war und im Gefängnis offenbar nur unzureichend behandelt wurde, starb am Sonntag. Damit dürften sich die Spannungen weiter verschärfen.
Die Frage ist nun vor allem: Wie werden die Militärs reagieren? Zwei Vier-Sterne-Generäle unter Putsch-Verdacht in Untersuchungshaft: Das habe es in der Geschichte der türkischen Republik noch nicht gegeben, unterstreichen Militär-Analysten in Ankara.
Unantastbare Paschas
Bisher galten die Paschas, wie die Türken ihre Generäle mit ihrem alten osmanischen Ehrentitel nennen, als unantastbar. Strafverfahren gegen aktive Militärs sind nur mit Genehmigung des Generalstabs möglich. Auch für die Festnahme der beiden Generäle a.D., die auf einem Militärgelände wohnen, musste sich der Staatsanwalt von Offizieren begleiten lassen. Viele Beobachter glauben, die Festnahmen seien nicht ohne Einverständnis der Militärführung möglich gewesen.
Tatsächlich war Premier Erdogan wenige Tage vor der Polizeiaktion zu einem langen Vier-Augen-Gespräch mit General Ilker Basbug zusammengetroffen, dem Kommandeur des Heeres, der Ende August neuer Generalstabschef werden soll. Beide Seiten dementierten zwar, dass dabei über die „Ergenekon”-Ermittlungen gesprochen wurde. Aber der Generalstab nahm die Festnahmen der Generäle a.D. kommentarlos hin – bislang.