Düsseldorf. . Der Verfassungsschutz NRW will verstärkt junge Neonazis aus der rechtsextremistischen Szene lösen. Seit dem Jahr 2000 sei 130 früheren Neonazis der Ausstieg über das Programm gelungen, sagte Innenminister Ralf Jäger (SPD). Ein Team bietet rechtsextremen Aussteigern Unterstützung.
Der Verfassungsschutz NRW baut sein Programm aus, mit dem junge Neonazis aus der rechtsextremistischen Szene gelöst werden sollen. Betreuer sollen künftig noch gezielter auf Ausstiegswillige zugehen. Zudem wird das Berater-Team um einen Mitarbeiter verstärkt. Es zählt jetzt sechs Personen, darunter eine Frau. Seit dem Jahr 2000 sei 130 früheren Neonazis der Ausstieg über das Programm gelungen, sagte Innenminister Ralf Jäger (SPD).
Aussteiger werden bis zu fünf Jahren betreut. Aktuell sind es 40 Neonazis. Jeder Anwärter muss eine Selbstverpflichtung unterschreiben, dass er den Kontakt zur Szene aufgibt. In rund 90 Fällen blieb dennoch am Ende der Erfolg aus.
In NRW gibt es laut Verfassungsschutz 640 Neonazis. Zu den betreuten Personen gehören auch frühere Funktionäre.
"Die Neonazi-Szene ist wie eine Sekte"
Seit zwölf Jahren macht sich der Verfassungsschutz NRW daran, Neonazis beim Ausstieg aus ihrem rechten Umfeld zu unterstützen. Aktuell befinden sich in dem Programm 40 Rechtsextremisten, darunter eine Frau. Theo Schumacher sprach mit einem der Ausstiegsbegleiter, der Erfahrung mit über 200 Fällen gesammelt hat.
Felix Medenbach, Sie versuchen Neonazis aus ihrer Szene zu ziehen. Warum nennen Sie Ihren richtigen Namen nicht?
Felix Medenbach: Ich sehe mich persönlich nicht in Gefahr. Aber ich will meine Familie und meine Privatsphäre da heraushalten.
Woher kennen Sie die rechte Szene?
Medenbach: Ich bin seit 1975 beim Nachrichtendienst und habe sehr lange im Bereich Rechtsextremismus gearbeitet, unter anderem als V-Mann-Führer. Da lernt man die Szene gründlich kennen. Wichtig ist zu wissen, welche Sprache sie spricht, wie sie sich verändert. Über den Verfassungsschutz habe ich außerdem Zugang zu allen Informationen, wie sich Rechtsextremismus entwickelt. Das ist meine Basis. Unsere Klienten merken schnell, ob einer weiß, wovon er redet.
Keiner kommt mit Neonazi-Gen auf die Welt
Wie wird einer Rechtsextremist?
Medenbach: Von jedem Ausstiegswilligen muss man wissen, warum er eingestiegen ist. Keiner wird mit dem Gen des Neonazis geboren. Viele Menschen haben in ihrem Leben eine Phase, wo sie nach Orientierung suchen. Meist ist das die Pubertät, und nicht immer erfahren sie aus ihrem Umfeld genug Wertschätzung oder fühlen sich zugehörig. Wenn dann die rechte Szene zur Stelle ist, kommt der Kontakt zustande. Da hört man Musik, es wird gegrillt und der Eindruck vermittelt: du passt zu uns, bist einer von uns. Das hebt das Selbstwertgefühl.
Neonazi-Prozess am Landgericht
So fängt es oft an. Es bleibt aber nicht immer so. Richtig. Viele Aussteiger haben irgendwann gemerkt, dass die Kameradschaft doch nicht so viel zählt. Dass der gerade noch hochgeschätzte Führer ein übler Opportunist ist. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit bekommt Risse. Distanz entsteht oft auch, wenn man in Konflikt mit der Polizei gerät und Gefahr läuft, durch den Einsatz für die rechte Szene zum Straftäter zu werden. Bis zum Ausstieg ist es dann aber noch ein langer Weg.
Ideologie ist am Anfang unwichtig
Welche Rolle spielen Rassismus und Antisemitismus als Bindemittel?
Medenbach: Anfangs gar keine. Die wenigsten Einsteiger haben ein Weltbild im Kopf, das man rechtsextremistisch nennen kann. Viele sagen mir, sie seien Opfer ihrer eigenen Unzulänglichkeit gewesen. Sonst wären sie nicht unter Neonazis gelandet. Bei denen, die dabei bleiben, kommt später schleichend Fremdenhass oder Antisemitismus hinzu. Man kann die rechte Szene mit einer Sekte vergleichen. Was von außen kommt, wird als unwahr gesehen.
Wie treten Sie in Kontakt zu Aussteigern?
Medenbach: Unterschiedlich. Wir haben eine Internetseite und das Bürgertelefon, über das sich manche melden. Viele Hinweise erhalten wir über Bewährungshelfer, gute Kontakte kommen auch über den Staatsschutz der Polizei zustande. Wir selbst sind offensiver geworden. Deshalb gehen wir auf einschlägige Gefangene in den JVA zu, damit sie über einen Ausstieg nachdenken.
Oft spielen Drogen eine Rolle
Wie läuft der Lösungsprozess ab?
Nazi-Demo in Dortmund
Medenbach: Das ruht auf zwei Säulen. Ausstieg kann nur funktionieren, wenn das Umfeld stabil ist. Deshalb müssen wir wissen, ob unser Klient einen Schulabschluss oder eine Ausbildung hat, ob er verschuldet ist oder vorbestraft. Drogen spielen oft eine Rolle. Wo wir können, helfen wir dann, auch mit Kooperationspartnern. Das ist die lebenspraktische Hilfe. Erst dann geht es darum, im Gespräch die Einstellung zu verändern. Denn Ausstieg muss im Kopf stattfinden.
Bieten Sie auch finanzielle Anreize?
Medenbach: Nein, das nicht. Aber wir können in kleinem Rahmen helfen, zum Beispiel mit zinslosen Darlehen. Ein Beispiel: Viele unserer Klienten haben Tätowierungen, die strafrechtlich relevant sind, wie Hakenkreuze oder SS-Runen. Wer von Arbeitslosengeld II lebt, hat oft nicht die 200 Euro, um sie beseitigen zu können. Dem können wir helfen. Oder auch beim Kauf von Kleidung, wenn einer nur Szene-Klamotten besitzt.
Mancher muss in einer anderen Stadt ganz neu anfangen
Neonazis sind bekannt dafür, dass sie vor Gewalt gegen Ausstiegswillige nicht zurückschrecken. Wie können Sie die schützen?
Medenbach: Wir haben ein gutes Bild der Lage. Wenn ein Aussteiger aus einer sehr gewaltbereiten Szene kommt, die Abtrünnige als Verräter betrachtet, bereiten wir einen stillen Ausstieg vor. Treffen müssen unbedingt unbeobachtet bleiben. Nicht selten besorgen wir dem Klienten eine Wohnung in einer anderen Stadt. Wenn der Tag x dann da ist, zieht er unangekündigt um. Wir lassen seine Meldedaten sperren, damit er in einem anderen Umfeld einen Neuanfang versuchen kann.
Fühlen Sie sich manchmal selbst körperlich bedroht?
Medenbach: Das ist mir in neun Jahren nur einmal passiert. Sie mögen es nicht glauben, aber die schlimmste Gewalt, die ich erlebe, ist die in den Schilderungen meiner Klienten. Ich nehme sie als Menschen wahr mit Schwächen und Problemen, rede mit ihnen auf Augenhöhe, ohne sie zu belehren. Ich gehe davon aus, dass alle einen guten Kern haben, wenn mir das manchmal auch schwer fällt.
Ein Ausstieg kann fünf Jahre dauern
Wie lange dauert ein Ausstieg?
Medenbach: In der Regel drei Jahre, manchmal auch bis zu fünf, ehe er stabil abgesichert ist. Für unsere Klienten ist das oft eine angstbesetzte Zeit. Denn wer rausgeht, verliert alles, seine Werte, die ausschließlich rechte Werte sind, und seine sozialen Kontakte. Wenn ein Ausstieg scheitert, dann fast immer, weil Drogen- oder Alkoholsucht alles andere überlagern. Wer diese Abhängigkeit nicht lösen kann, löst nichts.