München. Josef Wilfing ist so etwas wie ein Star, seit er die Morde an Walter Sedlmayr und Rudolph Moshammer aufgeklärt hat. Beim 4. Mord der NSU-Terrorgruppe aber hat er sich fatal geirrt: Die Hinrichtung des Fischhändlers Habil Kilic brachte er 2001 mit der türkischen Mafia in Verbindung. Das versuchte er nun im Prozess zu rechtfertigen.
Ein jedes besitzt seine Ordnung im Erdgeschoss der Bad Schachener Straße 14. Die frischen Erdbeeren, das Brot, die Cola-Flaschen, alles ist säuberlich sortiert. „Himmet Market“ steht in roten Lettern auf den beiden großen Fensterscheiben, die zur Straße weisen, darunter: „Obst, Gemüse, Feinkost“. Am Eingang hängen mehrere Boulevardblätter und die „Hürriyet“. Die Kugel Eis kostet einen Euro.
Hier, im Münchner Stadtteil Ramersdorf, dominieren lange, dreistöckige Wohnblocks. Es ist keine reiche Gegend, aber auch keine arme. Aus der nahen Verkehrspolizeiinspektion kommen des Öfteren die Polizisten im Laden vorbei und kaufen etwas zum Essen ein.
Hinter dem Tresen steht ein schwarzhaariger Mann, er ist um die 40 Jahre alt. Die Kasse bedient ein Mädchen, sie ist wohl seine Tochter. Nein, sagt der Mann leise, er könne nichts zu dem sagen, was damals geschah. „Ich bin doch schon der fünfte Besitzer, seitdem es passierte.“
Rückblick: Ein Mord vor knapp 12 Jahren
Der Mann ist zu höflich, um mitzuteilen, dass man bitte gehen sollte. Er lässt seine Augen sprechen, in denen noch etwas anderes durchschimmert. „Wir leben in Angst“, hatte kürzlich eine örtliche Zeitung die Ehefrau des Besitzers zitiert. Die Terrorgruppe, die bestehe doch nicht nur aus diesen Drei, also aus Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe.
Der Donnerstagmorgen Justizzentrums in der Nymphenburger Straße, nur ein halbes Dutzend U-Bahn-Stationen von Ramersdorf entfernt. So wie fast jede Woche sitzt dort im Schwurgerichtssaal die Hauptangeklagte Zschäpe. Sie hat ihre dunklen Haare zu einem Zopf gebunden und schaut angestrengt auf ihren Laptop.
Außer ihr und den beiden Mitangeklagten André E. und Holger G. blicken alle anderen im Saal auf die beiden Leinwände. Auf ihnen ist das
Lebensmittel-Geschäft in der Bad Schachener Straße zu sehen, mit den beiden Fenstern, der Tür dazwischen, dem Obst davor. Der Unterschied ist bloß, dass die Aufnahmen zwölf Jahre alt sind. Die Beschriftung auf dem Glas fehlt, dafür steht auf einer grünen Markise „Frischmarkt“.
Die Polizei kam am 29. August 2001 kurz vor Mittag hierher. „Wir wurden kurz nach 11 Uhr verständigt“, sagt Josef Wilfling. „Ich war Leiter der Mordkommission.“
Eine professionelle Hinrichtung
Wilfling ist 66 und inzwischen Kriminaloberrat außer Diensten. Er gilt in München als Berühmtheit, seit er die Morde an Walter Sedlmayr und Rudolph Moshammer aufklärte. Zwei Bücher hat er veröffentlicht. „Unheil: Warum jeder zum Mörder werden kann“, heißt das letzte Werk des „legendären Mordermittlers“. So preist ihn jedenfalls sein Verlag an.
Am 22. Verhandlungstag des NSU-Prozesses ist Wilfling allerdings zu einem Fall als Zeuge geladen, den er nicht lösen konnte. „Die Fehler der Polize“, hat die „Abendzeitung“ pünktlich zum Tag getitelt. Es geht um den Mord an Habil Kilic, der vierte von zehn Morden, die dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ zugerechnet werden.
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Zunächst einmal verläuft die Vernehmung ruhig. Routiniert kommentiert Wilfling die Bilder, auch jene, die zeigen, wie Kilic liegt auf dem Boden des Ladens liegt. Das Blut erscheint sehr rot auf den weißen Fliesen.
Kilic habe hinter dem Tresen gestanden, referiert der vormalige Polizist. Die erste Kugel sei „in der oberen Wangenregion ein- und rechts oberhalb des Ohres wieder ausgetreten.“ Die zweite Kugel, „der Fangschuss“, traf den Mann, als er sich schon im Fallen befand. Sie durchschlug den Hinterkopf und trat über den Augen aus. „Es war eine absolute professionelle Hinrichtung.“
Zuerst, sagt Wilfling, sei seine Kommission dem Hinweis zweier Frauen nachgegangen. Die beiden wollten gesehen haben, wie ein dunkelhäutiger Mann aus dem Laden rannte, in ein Auto stieg und mit quietschenden Reifen davon fuhr. Später habe sich herausgestellt, dass die eine Frau die Aussage erfunden und sie danach der anderen erzählt hatte.
Vielleicht was mit Drogen?
Selbstverständlich, sagt der Zeuge, habe man auch schon damals mittels der vermuteten Tatwaffe – einer Ceska-Pistole – einen Zusammenhang zu einer Tötungsserie hergestellt, die im Sommer zuvor mit der Ermordung des türkischen Blumenhändlers Enver Simsek begonnen hatte. „Die Opfer waren alle türkische Mitbürger, da musste man nicht lange über einen Tatzusammenhang spekulieren.“
Bilder zum NSU-Prozess
Allerdings ist dieser Zusammenhang, den Wilfling und später auch wegen der Mordserie gebildeten Sonderkommissionen „Halbmond“ und „Bosporus“ sehen, eigentlich immer der gleiche: „Organisierte Kriminalität“. Kilic habe ja neben dem Geschäft in einer Großmarkthalle gearbeitet, sagt er, „das war ein Drogenumschlagplatz“. Deshalb vermutete er wie bei den drei anderen Opfern, dass „er da in etwas hinein geraten“ sein könnte. „Er hatte ja auch finanzielle Probleme.“
Auch die zwei Radfahrer, die mehrere Zeugen vor und nach der Tatzeit nahe des Tatorts sahen, änderten damals nichts an dieser Einschätzung. Die Polizei sucht nach den beiden „sportlichen“ Männern, deren Alter zwischen 18 und 30 geschätzt wird, nur als Zeugen. „Es gab ja keine Anhaltspunkte, dass sie die Täter waren.“
Zeugen haben auch Mundlos und Böhnhardt gesehen
Man muss das nicht so sehen. Mehrere Anwälte von Opfer-Angehörigen konfrontieren Wilfling mit der Aussage eines Zeugen, der im Fall Simsek zwei junge, schlanke Männer zur Tatzeit am Tatort sah, die Radfahrerkleidung trugen. Er könne sich nicht erinnern, damals davon gehört zu haben, sagt der Kriminaloberrat a. D. dazu nur.
Wilfling, das wird schnell deutlich, kämpft um seinen Ruf. Erst jetzt, sagt er, wisse man doch, dass die Radfahrer damals wohl Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos waren. Man dürfe nicht mit den heutigen Kenntnissen die damalige „riesenschwierige“ Lage beurteilen.
Es habe, sagt er, kaum Spuren gegeben – und Hinweise auf einen rechtsradikalen Hintergrund schon gar nicht. Durch keinen Zeugen sei etwas in diese Richtung geäußert worden, auch habe das „professionelle Vorgehen“ der Mörder gegen Neonazis als Täter gesprochen. Dagegen„sollte man bitte nicht so tun, als ob es keine türkische Drogenmafia gebe“.
Die Vertreter der Nebenkläger werden immer unruhiger, je länger der frühere Chefermittler spricht. Auch dass er sagt, dass sich Kilic am Ende der Ermittlungen als „kreuzbrav“ herausgestellt habe, macht die Stimmung nicht besser – genauso wenig wie seine Versicherung, dass die Münchner Polizei „nicht auf dem rechten Auge blind“ sei.
"Ganze Städte voll mit Kilic"
Als Anwalt Adnan Menderes Erdal dem Zeugen Wilfling lautstark vorwirft, extra nur in die falsche Richtung ermittelt zu haben, eskaliert die Situation. Der Vorsitzenden Richter Manfred Götzl ermahnt Erdal, der aber nicht mit Schimpfen aufhört. Also spricht der Richter dem Anwalt eine Verwarnung aus und unterbricht die Sitzung.
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Nach der Mittagspause wird die Witwe des Opfers in den Zeugenstand gerufen. Sie ist 51, so alt, wie ihr Mann jetzt ungefähr auch wäre. Pinar Kilic sitzt Beate Zschäpe schräg gegenüber. Sie schaut die Angeklagte an, als sie sagt: „Er war Familienvater, ein anständiger Mann.“
Die Vernehmung verläuft stockend, die Zeugin wirkt nervös, fast aggressiv. „Wie Verdächtige wurden wir behandelt“, sagt sie, sogar das Blut ihres Mannes musste sie im Laden selber wegwischen. Ihre Stimme schwillt an. „Können Sie sich vorstellen, was das heißt?“
Wieder schaut sie Zschäpe an. „Die haben uns großen Schaden gebracht“, sagt sie, „meinen Mann ermordet, meinen Freundeskreis kaputtgemacht.“ Und ja, die Eltern ihres Mannes lebten noch. „Sie sind sehr wütend. Und eines sage ich Ihnen: Sie sind mehrere Leute, es gibt ganze Städte voll mit Kilic.“
Die Angeklagte starrt auf ihren Laptop.