München. Ein Zeuge hat möglicherweise den ersten Mord der NSU-Terroristen unmittelbar beobachtet. Der Elektroingenieur sah 2001 in Nürnberg zwei Männer in Radlerkleidung schnell vom Lieferwagen des Opvers Enver Simseks weggehen. Nach dem 21. Prozesstag dankte seine Witwe einem Helfer.

Die Blutlache war „70 mal 50 Zentimeter“ groß, „zum Teil flüssig, zum Teil angetrocknet“. An der Innenwand des weißen Kastenwagens fanden sich Blutspritzer. Sie waren „sehr zahlreich“, auf einer Fläche von einem Meter Breite, die bis zu einer Höhe von 1.85 Meter „spitz zulief“. So erinnert es Helmut K. aus Nürnberg, der am 21. Verhandlungstag des NSU-Prozesses als erster Zeuge aufgerufen wird. Der Kriminalhauptkommissar war am 9. September 2000 einer der ersten Polizisten am Blumenstand von Enver Şimşek. Neun Mal hatten die mutmaßlichen Täter Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos auf den Blumenhändler geschossen. Acht Kugeln trafen.

Als K. zum Tatort kam, hatte der Rettungsdienst den schwer verletzten Mann bereits ins Klinikum Nürnberg-Süd gebracht, wo er zwei Tage später starb. Bei der Obduktion war wiederum Kriminalhauptkommissar Josef L. zugegen. Auch er arbeitet beim Erkennungsdienst in Nürnberg – und auch er ist am Mittwochvormittag als Zeuge geladen. Vier Projektile mit dem Kaliber 7,65 Millimeter wurden im Körper Şimşeks gefunden, sagt er, zwei im Schulterbereich und zwei im Kopfbereich. Ein Projektil mit Kaliber 6,35 habe „noch im Schädel gesteckt“.

Selbst wenn diese Details aus den Ermittlungsakten und der Anklageschrift allen Prozessbeteiligten bekannt sind, so entfalten sie im Gerichtssaal dennoch ihre Wirkung. Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe hebt kaum ihren Kopf und schaut auf den Bildschirm ihres Laptops.

Zeuge sah vermutlich NSU-Terroristen nach dem ersten Mord

Weiter hinten, in den Reihen der Nebenkläger, sitzt Adile Şimşek, die Witwe des ersten bisher bekannten Mordopfers der Terrorgruppe, die sich „Nationalsozialistischer Untergrund“ nannte. Sie hört zu, wie berichtet wird, dass viele Menschen an dem Blumenwagen vorbeifuhren, in dem ihr Mann mit dem Tod kämpfte. Die Straße, sagt Kriminalhauptkommissar K., war schon damals „hochfrequentiert“. Neben den vielen Autos sei an jenem Samstag ein „Haufen Fußgänger und Fahrradfahrer“ unterwegs gewesen.

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Zu den Vorbeifahrenden gehörte auch Günther B., heute 63 und pensionierter Elektroingenieur. Er passierte den Blumenstand am Samstagmittag kurz von 13 Uhr, zusammen mit seinem Sohn. Die Fenster seines Autos waren wegen der Spätsommerhitze geöffnet. „In dem Moment, wo wir da vorbeifuhren, hörten wir mehrere metallische Schläge, es waren drei oder vier“, sagt Zeuge B. Vater und Sohn schauten nach links, zum Lieferwagen. Sie sahen „zwei Männer in Radlerkleidung“, 20 Jahre oder älter und um die 1,80 Meter groß. Einer hatte sehr kurze Haare, einer trug eine Baseball-Mütze auf dem Kopf. „Was mir auffiel: Sie gingen schnell von dem Fahrzeug weg.“

B. sagte zu seinem Sohn, dass dies doch alles recht „ungewöhnlich“ sei. Jedoch: „Wir mussten weiterfahren, hinter uns waren auch Fahrzeuge.“ Er habe „keinen Handlungsbedarf“ gesehen, „es waren ja noch mehr Menschen und Autos auf der Straße“. Erst am Montag, als er in den Polizeibericht in der Zeitung las, meldete er sich bei der Polizei.

NSU-Opfer Enver Şimşek lag zwei Stunden in seinem Blut bevor Hilfe kommt

Somit lag Enver Şimşek zwei Stunden in seinem Blut, die Kugeln im Kopf und im Rücken – bis kurz vor 15 Uhr Andreas H. vorbei kommt. Er ist der letzte Zeuge, der am Mittwoch aufgerufen wird.

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H. war damals Mitte 20 und Rettungsassistent. Er wollte an diesem Samstagnachmittag kurz vor 15 Uhr noch Blumen kaufen. Da kein Verkäufer zu sehen war, wartete er etwa 10 Minuten im Auto und las etwas. Schließlich, sagt er, kam in die Situation „komisch“ vor. Er rief die Polizei an, die ihn erst einmal abwimmelte mit der Begründung, dass eine Streife den Händler kürzlich noch gesehen habe. Erst, als H. gegen 15.15 Uhr nochmals anruft, kamen die Polizisten.

Nachdem Şimşek endlich entdeckt war, schaltete der Sanitäter in den Rettungsmodus. Er schleppte zusammen mit einem Beamten den Blutenden ins Freie und versorgte ihn, „soweit das möglich war“. Dann kam der Notarzt.

NSU-Angeklagter André E. muss weiter an Prozess teilnehmen

Nach der Zeugenvernehmung von H. geht der 21. Verhandlungstag zu Ende – dem noch mindestens 160 Tage folgen werden. Deshalb hatte auch der Angeklagte E. am Dienstag beantragt, nicht jedes Mal erscheinen zu müssen, da es ja oft kaum um ihn gehe. Doch das Gericht lehnt dies gestern offiziell ab: Die Vorwürfe an die fünf Angeklagten stünden alle miteinander im Zusammenhang, heißt es im sinngemäß in dem Beschluss,

Der rechte Terror der NSUKurz danach steht Adile Şimşek vor dem Justizzentrum in der Nymphenburger Straße und lässt ihre Anwältin Fragen beantworten. Es sei ihrer Mandantin „ein Herzensanliegen“, sagt Seda Basay, Andreas H. zu danken. „Er ist nicht wie 30 andere Leute vorbeigegangen, sondern er hat sich Gedanken gemacht und die Polizei gerufen.“

Die Ermittler befanden sich übrigens sieben Jahre nach dem Mord durchaus auf der richtigen Spur. Im Jahr 2007 wurden Günther B. und sein Sohn, die damals am Tatort vorbei fuhren, nochmals von der Polizei vernommen. Die Ermittler zeigten ein Überwachungsvideo, das vor dem Nagelbombenattentat in der Kölner Keupstraße aus dem Jahr 2004 aufgenommen wurde. In dem Film sind mutmaßlich Böhnhardt und Mundlos zu sehen.

Doch die beiden Zeugen konnten den Ermittlern nicht weiterhelfen, außer dass sie sagten, dass die Körpergröße wohl vergleichbar sei. Ansonsten hätten sie die Männer an der Straße ja gar nicht richtig gesehen.