Istanbul. . Der türkische Premier Erdogan geht überraschend auf Distanz zu seinen Plänen für den Istanbuler Gezi-Park. Und der Gouverneur verabredet sich mit den Demonstranten – über Twitter. Offenbar haben die Mächtigen Sorge, dass sie im Kampf gegen die Protestbewegung zu weit gegangen sind.

Was ist bloß in Tayyip Erdogan gefahren? Tagelang geißelt er die Demonstranten im Istanbuler Gezi-Park als „Gesindel“, „Lumpen“ und „Terroristen“ – dann setzt er sich plötzlich mit 16 von ihnen in Ankara an einen Tisch, diskutiert vier Stunden lang bis spät in die Nacht hinein. Überraschendes Ergebnis des Treffens: Erdogan will ein Gerichtsurteil über das umstrittene Kasernenprojekt im Gezi-Park akzeptieren.

Das ist eigentlich selbstverständlich, in der Türkei aber nicht. Schließlich hatte der Premier einen bereits erlassenen Baustopp zuvor als „fragwürdig“ kritisiert, die Unabhängigkeit des Gerichts angezweifelt und trotzig erklärt, die Baupläne seien unumstößlich. Jetzt will er sich nicht nur der Entscheidung der Richter im anhängigen Revisionsverfahren beugen. Selbst wenn die grünes Licht geben für das Bauvorhaben, will Erdogan mit einem Referendum die Zustimmung der Bevölkerung einholen. Sagt die nein, soll der Gezi-Park ein Park bleiben.

Der Gouverneur blieb die ganze Nacht im Café

„Wir werden die Entscheidung der Istanbuler umsetzen“, verspricht Regierungssprecher Hüseyin Celik voller Demut. Auch der Istanbuler Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu wirkt wie verwandelt: Nachdem er in den vergangenen Tagen immer wieder seine Polizei auf die Demonstranten gehetzt hatte, sieht er jetzt plötzlich Gesprächsbedarf.

In einem Café am Bosporus traf er sich am Donnerstag um Mitternacht mit etwa 150 Demonstranten. Das Treffen dauerte fünf Stunden, bis zum Morgengrauen. Die Einladung hatte Mutlu übrigens per Twitter verschickt – jenes soziale Netzwerk, das Premier Erdogan noch kurz zuvor als „Plage“ und „Bedrohung“ verteufelte. Erlebt die Welt jetzt einen anderen, einen neuen Erdogan? Nein, es ist der alte.

Erdogan weiß genau, wie weit er gehen kann

Erdogan mag maßlos sein, in seinen Worten ebenso wie in seinem selbstherrlichen Regierungsstil, er mag im Machtrausch mitunter den Blick für die Realitäten verlieren. Aber er ist auch ein mit allen Wassern gewaschener Polit-Profi, der bei allem Sendungsbewusstsein ein Gespür dafür hat, wie weit er gehen kann. Und die Protestbewegung, die vom Gezi-Park binnen weniger Tage auf 74 der 81 türkischen Provinzen übergriff, hat dem Premier eine solche Grenze aufgezeigt.

Das Kasernenprojekt, zu dem auch eine Moschee gehört hätte, mag ihm eine Herzensangelegenheit sein. Aber es gibt Wichtigeres. Die Bosporus-Börse ging wegen der Unruhen auf steile Talfahrt, die Lira stürzte ab, binnen weniger Tage flossen rund 500 Millionen Dollar von den türkischen Finanzmärkten ab. Die Protestwelle verunsichert Anleger und Investoren. Weitere Unruhen wären Gift für die Wirtschaft. Und das türkische Wirtschaftswunder der vergangenen zehn Jahre ist nun mal Erdogans stärkste Trumpfkarte.

2014 wird ein neuer Präsident gewählt

Aber Premier Tayyip Erdogan hat noch einen weiteren handfesten Grund, den aktuellen Konflikt nicht auf die Spitze zu treiben. Im Sommer 2014 möchte er sich zum Staatspräsidenten wählen lassen. Ein Blutbad auf dem Taksim-Platz hätte seine Wahlchancen geschmälert. Mit einem friedlichen Ende der Proteste dagegen wahrt Erdogan seine Option auf das Höchste Amt des Staates.