Berlin/Istanbul. . Trotz massiven Vorgehens der Polizei auf dem Istanbuler Taksim-Platz, haben auch in der Nacht zu Donnerstag dort wieder Regierungsgegner demonstriert. Ministerpräsident Erdogan kündigte am Donnerstag an, den Gezi-Park, wo sich die Proteste entzündeten, in Kürze räumen zu lassen.
Nach einer Nacht ohne schwere Gewalt zeigt die türkische Polizei am Donnerstag auf dem Taksim-Platz in Istanbul weiter starke Präsenz. Auf dem Platz waren am späten Morgen noch mindestens acht Wasserwerfer in Stellung, berichteten Augenzeugen. Im angrenzenden Gezi-Park harrten Demonstranten aus. Vor zwei Wochen hatte sich an der Räumung des Protestlagers im Gezi-Park die Protestwelle entzündet. Inzwischen richten sich die Demonstrationen vor allem gegen den autoritären Regierungsstil des islamisch-konservativen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Erdogan bietet Referendum zu Bauprojekt in Gezi-Park an
Auf dem Taksim-Platz im Zentrum Istanbuls hatten auch in der Nacht zum Donnerstag wieder Regierungsgegner demonstriert. Anders als in der Nacht zuvor griff die Polizei jedoch nicht ein. Fernsehbilder zeigten hunderte Demonstranten, die auf dem Platz und im benachbarten Gezi-Park friedliche ihren Unmut über den Kurs des islamisch-konservativen Regierungschefs Recep Tayyip Erdogan zum Ausdruck brachten und dem Konzert eines Pianisten lauschten. Auch in der türkischen Hauptstadt Ankara gab es erneut Demonstrationen. Dort ging die Polizei massiv gegen Demonstranten vor.
Zuvor hatte Erdogan am Mittwoch in einem Gespräch mit Künstlern, Wissenschaftlern und Publizisten in Ankara ein Referendum über das umstrittene Bauprojekt in dem Park ins Gespräch gebracht. Die Bevölkerung von Istanbul oder aber des Stadtteils Beyoglu könne dann entscheiden, ob der Park bestehen bleiben solle oder der geplante Nachbau einer osmanischen Kaserne errichtet werde, sagte der Parteisprecher. Erdogan hatte am Mittwochnachmittag Künstler, Wissenschaftler und Personen des öffentlichen Lebens zu einem als informell bezeichneten Gespräch über die Protestbewegung getroffen. Allerdings fehlten wichtige Organisatoren der Proteste, wie die Taksim-Plattform, die vor einigen Tagen mit Erdogans Stellvertreter Bülent Arinc gesprochen hatten.
Internationale Kritik an Erdogan wird deutlicher
Mit dem gewaltsamen Vorgehen gegen Demonstranten auf dem Istanbuler Taksim-Platz hat sich der türkische Ministerpräsidenten Erdogan international isoliert. Aus Deutschland, Europa und den USA wird die Kritik an der radikalen Räumung des Platzes immer deutlicher.
Mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen waren am Dienstag die türkischen Polizisten gleich zwei Mal gegen 30.000 Demonstranten vorgegangen. Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen sollen dabei 5000 Menschen verletzt worden sein, zudem soll es vier Todesopfer gegeben haben. Die Verletzungen sind zum Teil drastisch: So gab es Schädelbrüche, ausgeschossene Augen und Knochenbrüche, melden türkische Ärzteorganisationen. Viele Demonstranten litten an den Folgen des Tränengaseinsatzes.
Der Protest richtete sich ursprünglich gegen ein von Erdogan geplantes Einkaufszentrum, für das der beliebte Gezi-Park am Taksim-Platz weichen soll. Inzwischen steht allerdings die gesamte Politik der türkischen Regierung in der Kritik. „Ich glaube, Erdogan ist ganz massiv angeschlagen“, sagte der Ehrenvorsitzende der türkischen Gemeinde, Hakki Keskin, im Deutschlandfunk. Wenn Erdogan betone, er sei für Demokratie, Reformen und Erneuerungen in der Türkei, dann sei diese Maske der Demokratie nun gefallen.
Merkel sieht Grundrechte in Gefahr
Auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht die demokratischen Grundrechte in der Türkei in Gefahr. Sie mahnte Erdogan, die Versammlungs- und Meinungsfreiheit zu respektieren. Außenminister und Vizekanzler Guido Westerwelle forderte Erdogan auf, „im Geiste europäischer Werte“ zu deeskalieren und einen friedlichen Dialog einzuleiten.
Eben jene europäischen Werte, die Basis der seit Jahren andauernden EU-Beitrittsgespräche, sind für mehrere deutsche Politiker in der Türkei bedroht. So mehren sich die Stimmen, die Beitrittsgespräche einzufrieren, unter ihnen die nordrhein-westfälischen CDU-Europaabgeordneten Markus Pieper und Peter Liese. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton forderte „Mäßigung von allen Seiten“ und erinnerte daran, dass zwischen dem Umgang mit Oppositionellen und dem Wunsch Ankaras auf einen Beitritt zur EU ein Zusammenhang bestehe. Grünen-Chef Cem Özdemir sagte hingegen, er könne sich vorstellen, dass Erdogan über ein Aussetzen der Verhandlungen „sehr glücklich“ wäre, weil er dann ungestört „schalten und walten“ könne.
EU-Parlament rügt Erdogan
Erdogans vorsichtiges Einlenken reicht aus Sicht des Grünen-Chefs Cem Özdemir nicht aus, um die regierungskritischen Demonstranten zu beschwichtigen. "Damit wird er es nicht schaffen, dass sie den Platz wieder räumen", sagte Özdemir am Donnerstag im Deutschlandfunk. Erdogan merke, dass ihm die Situation entgleite, der Unmut breite sich zunehmend auch in seiner eigenen Anhängerschaft aus. "Wenn er sich seiner Sache sicher wäre, hätte er es aussitzen können", betonte der Parteivorsitzende.
Das EU-Parlament hat den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan wegen seiner unversöhnlichen Haltung zu den Demonstranten im Gezi-Park scharf kritisiert. Der Regierungschef habe zur Polarisierung beigetragen, "weil er es ablehnt, versöhnliche Schritte einzuleiten und die Reaktion eines Teils der türkischen Bevölkerung zu verstehen", hieß es in einer gemeinsamen Entschließung von Christ- und Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen, die am Donnerstag in Straßburg verabschiedet wurde.
Die türkische Regierung solle "das Recht aller Bürger auf freie Meinungsäußerung, friedliche Versammlung und friedlichen Protest achten". Die Parlamentarier verurteilten die unverhältnismäßige und überzogene Anwendung von Gewalt durch die türkischen Polizeikräfte. Die Verantwortlichen für die Gewalt sollten zur Rechenschaft gezogen und die Opfer entschädigt werden.
Auch die USA sind besorgt
Mit den USA distanzierte sich einer der treuesten Bündnis-Partner: „Wir verfolgen die Ereignisse in der Türkei mit Besorgnis und unterstreichen das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit“, ließ der amerikanische Präsident Barack Obama erklären.
Erdogan selbst zeigte sich vom internationalen Protest unbeeindruckt. Zwar erklärte er sich bereit, am Mittwochnachmittag Vertreter der Protestbewegung zu treffen. Gleichzeitig bekräftige er aber auch seine kompromisslose Linie: „Von jetzt an wird es keine Toleranz mehr geben“, sagte er. Gelassen macht ihn wohl der große Rückhalt in der Bevölkerung: Nach einer Umfrage würden immer noch 49,6 Prozent Erdogans Regierungspartei AKP ihre Stimme geben, wenn am kommenden Sonntag gewählt würde. (bik/gh mit dpa)
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