Warschau. . Die polnische Bevölkerung leidet unter der Abwanderung der Mediziner ins Ausland. Es fehlen Spezialisten. Jeder fünfte Arzt ist bereits über 70 Jahre alt. Auch Ungarn ist betroffen und hat die Notbremse gezogen. Mediziner müssen nach dem Studium nun zunächst im Land bleiben. Doch die Westlöhne locken.

Der Tod des zweieinhalbjährigen Dominika aus Skiernewicy rüttelte vor einem Monat ganz Polen auf. Zweimal verweigerte der überlastete Notarzt einen Hausbesuch. Als das Kind nach siebenstündiger Wartezeit endlich ins Krankenhaus kam, war es bereits zu spät.

Der Mangel an medizinischem Personal in Polen nimmt immer dramatischere Züge an. Eine Kontrolle der Nacht- und Sonntagspraxen nach dem tragischen Todesfall in der Kleinstadt ergab jetzt, dass etwa ein Drittel der Praxen unter gravierendem Personalmangel leiden. Dabei fehlten in 33 Prozent die Ärzte, in 28,5 Prozent der Fälle Krankenschwestern. Jede zwanzigste Praxis verfügte über Fachkräfte, die gleichzeitig in einer weiteren Notpraxis Schichtdienst leisteten.

Auch Krankenschwestern fehlen

Die Mediziner schlagen deshalb Alarm: Nach Angaben der polnischen Ärztekammer praktizieren in Polen mit seinen 38 Millionen Einwohnern viermal weniger Ärzte als in Deutschland. Jeder fünfte polnische Arzt ist dazu älter als 70 Jahre. Die Rentner müssen die Lücken schließen, nachdem Deutschland nach Großbritannien zum wichtigsten Auswanderungsland für Polens Ärzte und Krankenschwestern geworden ist. Laut einer Studie gibt nur jeder fünfte Medizinstudent an, später in Polen bleiben zu wollen. Auch Österreich und Skandinavien werden von Studenten als begehrtes Auswanderungsziel benannt.

In sämtlichen Bereichen fehlen die Spezialisten, klagt die polnische Ärztekammer. Der größte Mangel herrscht bei Anästhesisten, Chirurgen und Radiologen, aber auch bei Rettungsärzten, medizinischem Krankenwagenpersonal und Krankenschwestern.

Staatlich festgesetzter Minimallohn für Ärzte

Das Land versucht deshalb, Spezialisten und Krankenschwestern aus der Ukraine und Weißrussland anzuwerben. Der Erfolg ist bisher mäßig, weil es Probleme in der Europäischen Union mit der gegenseitigen Anerkennung der Diplome gibt. Wer dennoch in die EU ausreisen könne, ziehe Westeuropa natürlich Polen vor, klagen Mediziner auf dem polnischen Branchenportal nazdrowie.pl. Als mögliche Abhilfe wird bereits ein staatlich festgesetzter Minimallohn für Ärzte in der dreifachen Höhe des Landesdurchschnittslohns diskutiert. Dies würde die Abwanderung ins Ausland zumindest verringern, hoffen polnische Gesundheitsmanager.

„Das Spital Tarnow unweit von Krakau bezahlt schon 10 000 Zloty (rund 2400 Euro) im Monat, dennoch kann es keine Ärzte finden“, verwarf dieser Tage der Bürgermeister im Lokalradio solche Pläne. Jetzt hält sich hartnäckig das Gerücht, es drohe die Schließung des Hospitals wegen des chronischen Mangels an Fachärzten und Krankenschwestern.

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Auch Ungarn ist von der Abwanderung betroffen. Regierungschef Viktor Orban hat deshalb die Notbremse gezogen. Seine rechtskonservative Fidesz-Partei änderte dank ihrer Zweidrittelmehrheit im Parlament kurzerhand die Verfassung, um junge Ärzte sowie medizinisches Fachpersonal im Land zu halten. Medizin- und andere Studenten, die staatliche Stipendien erhalten, müssen nun nach dem Studienabschluss eine gewisse Zeit in Ungarn arbeiten. Dort verdienen junge Mediziner selten mehr als 1000 Euro im Monat.

„Bisher bildeten wir unentgeltlich Ärzte für Norwegen aus“, sagt ein Staatssekretär dieser Zeitung. Auch nach Deutschland würden viele ungarische Mediziner gleich nach dem Studium ziehen, denn die Arztgehälter seien dort viel höher als in Ungarn, wirbt der Beamte für Verständnis für den umstrittenen Inlandsarbeitszwang.

Westlöhne locken

Die Mehrheit der Ungarn, die sich keine Privatklinik leisten können, sind der Regierung für den in Brüssel sehr umstrittenen Verfassungsartikel dankbar. „Ich verstehe unsere Regierung“, sagt auch der angehende Medizinstudent Istvan, „mich stören nur die patriotischen Moralpredigten, die das alles begleiten.“ Noch ist für Istvan, der nach einem Sportunfall selber im Spital landete, klar, dass er später in Ungarn arbeiten möchte. Doch sobald die guten West-Löhne und die Zusatzausbildungsmöglichkeiten locken, überlegen es sich viele anders.