Essen. Der Bundesrechnungshof will das Milliardenprojekt Stuttgart 21 noch einmal durchleuchten. Im Interview mahnt Rechnungshof-Chef Prof. Dieter Engels die Politik, Risiken bei Großprojekten „frühzeitig ernst zu nehmen“.

Das Internetportal „Der Postillon“, das für seine erfundenen Nachrichten bekannt ist, meldet jetzt, der Rohbau des neuen Berliner Großflughafens sei in Wirklichkeit aus Pappmache und Pressspan, das Dach löse sich bereits auf und zwei berüchtigte Trickbetrüger namens Wowi und Platze seien mit mehreren Milliarden Euro auf der Flucht. Können Sie darüber angesichts der sich häufenden öffentlichen Bau-Pleiten noch lachen?

Prof. Dieter Engels: Im Rheinland, wo der Bundesrechnungshof ja seinen Sitz hat, lachen wir gerne – aber darüber nicht, dafür sind die Dinge zu ernst und der Bau des Großflughafens auch zu teuer.

Der Rechnungshof hat am 3. November 2008 vorausgesagt, die Baukosten von Stuttgart 21 würden die Marke von fünf Milliarden Euro reißen. Fünf Jahre danach bestätigt die Bahn die Preislage. Offenbar verfügen Sie über Prognoseinstrumente, die der Bauherr Staat nicht nutzt. Welche sind das?

Engels: Es ist selbstverständlich, dass der Bundesrechnungshof seine Bewertungen auf eigene Berechnungen stützt. Die sind aber kein Hexenwerk, sondern basieren auf anerkannten Methoden. Unser Vorteil: Unsere Unabhängigkeit erlaubt uns, objektiv und unverstellt auf die Dinge zu blicken und ungeschminkt darüber zu berichten. Außerdem können wir auf einen großen Erfahrungsschatz zurückgreifen, so dass unsere Ergebnisse in der Regel sehr nah an der Realität liegen. Bei Stuttgart 21 haben wir 2008 unsere Prognose von mindestens 5,3 Mrd. Euro übrigens im Wesentlichen auf Erkenntnisse gestützt, die auch dem Bundesverkehrsministerium vorlagen.

"Nicht jede Kostensteigerung kann der Politik angelastet werden"

Der Vorwurf bei umstrittenen Vorhaben wie Flughafen Berlin, Stuttgart 21 und Elbphilharmonie heißt: Zu Beginn setzt die Politik Baukosten mit Absicht niedrig an, um die allgemeine Zustimmung zum Projekt sicherzustellen. Das geht dann schief. Teilen Sie diese Einschätzung?

Engels: Diese Gefahr besteht – aber: Nicht jede Kostensteigerung bei Bauprojekten kann der Politik angelastet werden. Die Ursachen sind meist vielfältig. Je länger ein Projekt andauert, desto eher können sich Preissteigerung oder Planungsänderungen niederschlagen. Das gilt auch für den Berliner Flughafen. Hier hat nicht die Politik, sondern die Flughafengesellschaft geplant. Lärmschutzauflagen sowie die Verschiebung der Inbetriebnahme haben zu den Kostensteigerungen beigetragen. Es ist wichtig, dass Entscheidungsträger Risikohinweise der Arbeitsebenen der Ministerien und Projektgesellschaften frühzeitig ernst nehmen.

In Berlin wurde der Baukonzern Hochtief als Generalunternehmer ausgebootet und durch den Staat ersetzt. Außerdem gab es mehrere hundert Umplanungen während der Bauzeit. Waren das die grundlegenden Fehler?

Engels: Das Vergaberecht bevorzugt grundsätzlich die gewerke- und losweise Vergabe und nicht die Vergabe an ein Generalunternehmen. Das Beispiel Elbphilharmonie zeigt, dass es auch bei Einsatz eines Generalunternehmens erhebliche Störungen und Verteuerungen geben kann. Geboten sind in jedem Fall eine unabhängige Steuerung und Leitung des Projekts. Umplanungen sind manchmal nicht auszuschließen, sollten aber durch eine dezidierte Projektvorbereitung vermieden werden.

Beim Berliner Flughafen ist der Staat nicht der Unternehmer. Vielmehr hat die Flughafengesellschaft mit Hilfe von Ingenieurbüros die Projektumsetzung privatrechtlich übernommen, die im Ergebnis bislang nicht geglückt ist. Weshalb, das analysieren nun externe Gutachter sowie der Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses Berlin.

Sind die bundesweiten finanziellen Schäden abzuschätzen, die durch Fehlplanungen und falsche Preisprognosen in den öffentlichen Kassen entstehen? Und: Wie hoch sind sie?

Engels: Jede Baumaßnahme ist ein Unikat. Daher ließe sich ein möglicher finanzieller Schaden für den Bund oder für andere öffentliche Bauherrn nur anhand des jeweiligen Einzelfalls ermitteln. Zu bundesweiten Auswirkungen liegen uns keine Zahlen vor.

Ist es besser, solche Großprojekte in öffentlicher-privater Partnerschaft zu bauen, den so genannten PPP-Vorhaben?

Engels: Bei Großprojekten im Hochbau: Per se Nein. Auch bei Hochbauprojekten als PPP muss der öffentliche Bauherr ganz genau wissen, was er will, und dies auch vertraglich festschreiben: ein klares Raumprogramm, präzise Qualitätsanforderungen, verbindliche Termine. Hierzu gehört auch, ob der private Partner das Bauwerk später betreiben oder unterhalten soll. Wünscht der Bauherr nach Abschluss des Vertrags Änderungen, wird der private Partner Nachforderungen erheben, zu Recht, sofern vom vereinbarten Vertragsinhalt abgewichen wird. Leider stellen wir immer wieder fest, dass öffentliche Bauherren bei Hochbauprojekten die notwendige Klarheit vermissen lassen. Dann kann es zu Kostensteigerungen, Terminverzögerungen oder Qualitätseinbußen kommen.

Im Übrigen besteht die Gefahr, dass PPP nur deshalb als Modell gewählt wird, um die Schuldenbremse zu umgehen. Darauf hat der Bundesrechnungshof die politischen Entscheidungsträger hingewiesen. Um es klar zu sagen: Für den Bundesrechnungshof ist PPP eine Beschaffungsvariante und keine Finanzierungsvariante.

Nicht koordinierte Klimatechniken, falsch gelegte Stromleitungen, Wasser im Gebäude: Hat nach Ihrer Einschätzung die Qualität der Bauleistungen auch deswegen nachgelassen, weil zu oft Billigfirmen auf den Baustellen tätig sind? Und wenn ja: Was bedeutet das für die in Ausschreibungen verfolgte Pflicht, den Zuschlag den preiswertesten Anbietern zukommen zu lassen?

Engels: Beim Bau des Berliner Flughafens sind namhafte deutsche Großunternehmen tätig. Da würde ich nicht von Billigfirmen sprechen. Im Übrigen verlangt das Vergaberecht keineswegs, dem preiswertesten Angebot den Zuschlag zu erteilen. Maßgeblich ist die Wirtschaftlichkeit der Angebote, das Preis-Leistungs-Verhältnis. Billigfirmen haben keine Vorfahrt. Im Gegenteil: Der Zuschlag darf auf ein Angebot mit einem unangemessen niedrigen Preis nicht erteilt werden. Bei der Wertung der Angebote ist der Preis ein Kriterium unter vielen, wie beispielsweise Qualität, technischer Wert, Betriebs- und Folgekosten, Kundendienst oder Ausführungsfrist.

In Stuttgart fordern Kritiker, das Vorhaben aufzugeben. Auch Berlin gibt es die Vorstellung, an ganz anderer Stelle, auf einem alten Militärflugplatz im brandenburgischen Sperenberg, neu zu bauen. Was halten Sie von solchen Radikallösungen?

Engels: Radikallösungen sind Ausnahmen und dürfen, wenn überhaupt, nur auf der Grundlage eines eingehenden und absolut zuverlässigen Erkenntnis- und Abwägungsprozesses in Betracht gezogen werden. Außerdem würde auch eine Radikallösung einen erheblichen Zeitraum für Planung und Bau benötigen.

Die Realisierung von Stuttgart 21 ist Aufgabe der Bauherrin DB AG. Daher entscheiden zunächst Vorstand und Aufsichtsrat der DB AG über die Wirtschaftlichkeit der Realisierung von Stuttgart 21. Natürlich wäre eine solche Entscheidung in Abstimmung mit den Projektpartnern, also Land, Stadt und auch dem Bund, zu treffen. Wir werden uns diese Prozesse ansehen, wenn wir untersuchen, wie sich der Bund als Eigentümer der DB AG und als Mitfinanzier in diesen Fragen verhält.

Bezüglich des Berliner Flughafens erinnere ich daran, dass der Standort für den neuen Berliner Großflughafen Mitte der 1990er Jahre festgelegt wurde. Seinerzeit war auch der Standort Sperenberg in das Entscheidungsverfahren einbezogen. Bei der Diskussion von Radikallösungen muss der Umfang der bereits realisierten Baumaßnahmen berücksichtigt werden.

Braucht der Bundesrechnungshof mehr Zuständigkeiten, um solche Finanzdebakel zu verhindern? Oder sollte man einfach besser auf Sie hören?

Engels: Letzteres. Das wäre jedenfalls wünschenswert und auch ausreichend.