Essen. Am 17. April beginnt in München der spektakuläre NSU-Prozess. Die Bundesanwälte klagen mit aller Härte an. Die Sicherheitsmaßnahmen sind groß. Bei dem Prozess erhält ein kleiner Satz auf Seite 242 der umfangreichen Anklageschrift großes Gewicht.
Der Schwurgerichtssaal 101 im Münchener Justizzentrum ist alt und klein. Aber hier wurden bedeutende Prozesse verhandelt wie der gegen den Kriegsverbrecher Demjanjuk. Am 17. April ist der Gebäudetrakt wieder Schauplatz eines spektakulären Tribunals. Die 6. Große Strafkammer des Oberlandesgerichts eröffnet ein Mammutverfahren, das in Umfang und Bedeutung den Stammheimer RAF-Prozessen nahe kommt.
Die Akte NSU
Mindestens ein Jahr lang müssen fünf Richter und zwei Schöffen prüfen, ob und wie weit die heute 38-jährige Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte in neun Morde verwickelt sind, deren geheimnisvolle Serie zwischen 2000 und 2007 die Republik aufschreckte und die nach der 488 Seiten starken Anklage aus Ausländerhass begangen wurde. Sie müssen über einen weiteren Mord urteilen, den an der jungen Heilbronner Polizistin Michele Kiesewetter, über zwei Bombenattentate mit vielen Verletzten und über 15 Banküberfälle.
Der Prozess gegen den rechtsextremen „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU), die „Zwickauer Zelle“, wird die mutmaßlichen Mordschützen nicht mehr treffen können. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt starben am 4. November 2011, als die Polizei im thüringischen Eisenach ihren Wohnwagen stürmen wollte. Sie haben sich selbst getötet. Die dritte in der kleinen Gruppe, Beate Zschäpe, überlebte. Mit der ganzen Wucht der 27 Anklagepunkte wird sie von der Bundesanwaltschaft der Mittäterschaft an zehn Morden beschuldigt und der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Ihre Mitangeklagten Ralf Wohlleben, Carsten S., Holger G. und Andre E. werden in unterschiedlichem Maß der Unterstützung bezichtigt.
Die Blutspur
Ein Grieche und acht Türken, meist Kioskbesitzer, sind die Mordopfer. Die Blutspur zieht sich durch Deutschland. Die Täter haben die Opfer willkürlich gewählt und mit einer Ceska 83-Pistole erschossen. Ein Opfer: der Dortmunder Mehmet Kubasik. Zwei weitere schwere Verbrechen der Gruppe sollen in Nordrhein-Westfalen stattgefunden haben, die Kölner Bombenanschläge 2001 und 2004. Im Eröffnungsbeschluss hat das Oberlandesgericht hier die Anklage sogar verschärft: Mit dem Vorwurf des vierfachen Mordversuchs.
Beate Zschäpe
In dem Verfahren, in dem 606 Zeugen aussagen sollen, lassen sich Opferangehörige durch fast 40 Nebenkläger-Anwälte vertreten. Entscheidend ist, für welchen Tatbeitrag sich Zschäpe verantworten muss. War sie nur fürsorgliche Komplizin von Böhnhardt und Mundlos, die sie seit 1998 mit Essen, Kleidung und Mietautos versorgte? Oder teilte sie den mörderischen Rassenhass, wusste sie von den Morden und Anschlägen, plante sie mit und unterstützte sie?
Generalbundesanwalt Harald Range, der die Anklage nach Auswertung von 300 000 Seiten Ermittlungen in 680 Aktenordnern selbst unterschrieben hat, ist von der Schwere ihrer Schuld überzeugt. Das Trio habe sich als ein auf Dauer agierendes, einheitliches Tötungskommando verstanden, glaubt er.
Ein kleiner Satz auf Seite 242 der umfangreichen Anklageschrift erhält deshalb Gewicht: In Nürnberg wurde am 9. Juni 2005 Ismail Yasar getötet – brutal mit mehreren Schüssen in Kopf und Oberkörper. Er verblutete. Zschäpe sei selbst am Tatort gewesen, sagen die Bundesanwälte. Zeugen hätten sie im benachbarten Edeka-Markt an der Kasse gesehen.
Richter und Verteidiger
Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl (60) ist ein sehr erfahrener Jurist. Er hat schon den Mörder von Modezar Rudolph Moshammer abgeurteilt. Seine Umgebung hält ihn für einen „Besessenen“, wenn es um die Wahrheitsfindung geht. Götzl, heißt es, kann auch laut werden. Das Team der Zschäpe-Verteidiger – Anja Sturm, Wolfgang Heer und Wolfgang Stahl – ist jung und nicht wie Verteidiger in anderen Fällen ideologisch rechts vorbelastet. Aber sie sind überzeugt: Die Anklage ist gewagt.