Berlin. Die deutsch-jüdische Schriftstellerin Esther Dischereit will die NSU-Verbrechen als Oper auf die Bühne bringen. Dabei sollen auch die Ermittlungspannen thematisiert werden. Das Wichtigste sei bei diesem Thema aber, dass ihre Arbeit vor den Augen der Hinterbliebenen Bestand haben müsse.
Die deutsch-jüdische Schriftstellerin Esther Dischereit geht seit Monaten zu den Zeugenbefragungen des NSU-Ausschusses. Sie will die in ihren Augen "größte Mordserie, die die Bundesrepublik gehabt hat" künstlerisch verarbeiten. Mit dem Komponisten Gabriel Iranyi arbeitet sie an einer Oper, die die Opfer und Hinterbliebenen sichtbar machen soll. Der Arbeitstitel: "Es ist nicht nicht auszuschließen. 10 Tote."
Seit Anfang 2012 arbeitet der Untersuchungsausschuss des Bundestages die Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) auf. Die Terrorzelle lebte mehr als ein Jahrzehnt unentdeckt von den Sicherheitsbehörden im Untergrund und wird bundesweit für zehn Morde verantwortlich gemacht. Am Donnerstag kommt der Ausschuss zu weiteren Zeugenvernehmungen zusammen.
Dischereit will rechtsextremen Terror ungeschminkt behandeln
"Das ist ein rassistisch motiviertes, über Jahrzehnte anhaltendes Verbrechen", sagt Dischereit über die Neonazi-Mordserie von 2000 bis 2007. "Und als solches gehört es auch benannt." Sie wolle, dass das Ausmaß des rechtsextremen Terrors in Deutschland ungeschminkt behandelt werde.
Es müsse klar werden, dass es sich hier um eine auch von staatlichen Organen unterstützte Verbrecherclique handele, deren Terror sich konsequent gegen bestimmte Gruppen der Bürger richte. "Das ist unerträglich", sagt die 60-Jährige und schüttelt den Kopf.
Oper müsse vor den Augen der Hinterbleibenen Bestand haben
Dies will die Künstlerin in Form eines Opernlibrettos aufgreifen. Dabei gehe es nicht darum, "die Einzelheiten der Taten, die Ungeheuerlichkeiten der Verstrickungen im Detail nachzuzeichnen". Wahrscheinlich müssten die Vorgänge in der künstlerischen Darstellung sogar ausschnitthaft reduziert werden. Es müsse darum gehen, an verschiedenen Punkten exemplarisch deutlich zu machen, um welchen Charakter von Verbrechen es gehe. Und was es bedeute, wenn in Polizei, Militär und Verfassungsschutz rechtsaffine Strömungen anzutreffen seien und Behörden zivilgesellschaftlich versagten. "Ich muss die Farbe ihres Denkens zeigen können", sagt sie.
Ihre Arbeit müsse Bestand haben vor den Augen der Hinterbliebenen. "Nichts sonst ist wichtig", sagt Dischereit. Sie ist der Ansicht, dass es in der lyrischen Form gelingen könnte, "im wahrsten Sinne des Wortes Stimme zu erlangen". So habe sie in das Libretto eine Serie von Gedichten eingefügt, die sie Gebete oder Klagelieder nenne. "Es ist ein öffentliches Klagen."
Autorin schreibt vor allem über die Assimilation der Juden in Deutschland
In ihrem Gedicht "Ich kaufe ein in diesem Laden" schreibt sie: "Ich geh' zurück zu meinem Laden, streiche vorüber an geschlossenen Jalousien, will dem toten Mann darin ein Weißbrot geben. Einen Tee. Der Tee ist kalt und hat den Rand des Glases schon verfärbt. Der Tee ist kalt und hat den Rand des Glases schon verfärbt. Am nächsten Morgen komm' ich sag' ich am nächsten Morgen und geb' Dir wieder ein Weißbrot und ein Glas voll heißen, süßen, schwarzen Tee."
Die preisgekrönte Theater- und Hörbuch-Autorin thematisiert in ihren Werken vor allem die Assimilation der Juden in Deutschland. Ihre Bücher "Joëmis Tisch - eine jüdische Geschichte" und "Übungen jüdisch zu sein" beschreiben das vielschichtige Problem, nach 1945 als Jude in Deutschland zu leben. 2009 wurde sie mit dem Erich-Fried-Preis ausgezeichnet.
Bis zur ersten Aufführung würden noch einige Monate vergehen
Dischereit sagt, das Libretto werde keine Kopie der Mordserie oder des Ausschusses. "Wenn der Ausschuss sich aus juristischen und politischen Gründen unglaublich vorsichtig verhalten muss, habe ich andere Möglichkeiten." Sie könne Umstände kreieren, die "wir leider inzwischen für vorstellbar halten". Eine einheitliche Form zu wählen sei aber kaum möglich. Einen durchgehenden Protagonisten werde es daher nicht geben. Einige Szenen würden sehr konkret, andere entfernten sich wiederum und stützten sich auf andere Kenntnis.
Bis zur ersten Aufführung würden noch einige Monate vergehen. "Opernentwicklung ist kompliziert und gilt als ein langwieriger Prozess. Stimmungen werden vorab festgelegt", erklärt sie. Ihr sei wichtig, Szenen und Personen zu entwickeln, die den Kern, das Ausmaß und die Struktur des Geschehens bloßlegten. "Ich ringe doch immer noch darum, zu begreifen, was geschehen ist", räumt sie ein, "welche buchstäblichen Totengräber diese Demokratie beherbergt".
Dischereit müsse sich nach einem Tag im Ausschuss erholen
Das künstlerische Ergebnis müsse vor den Augen derjenigen Bestand haben, die es überwiegend betreffe, "die türkische und anderen migrierten Communities, die von der Mordserie betroffen sind". 20 Prozent der Bevölkerung seien im Visier von Mördern. "Das ist doch unglaublich."
Dischereit sagte, nach einem Tag im Ausschuss müsse sie sich erst einmal dringend erholen, "nach diesen Informationen." Linear könne sie da nicht einfach weiterschreiben. "Ich sitze dann da und es gibt einen Bericht, eine Tatsache, einen Schlüssel oder ein Werkzeug oder ein Handy – die bleiben im Gedächtnis stecken, wie ein Haken." (dapd)