Essen. . FDP, SPD, Teile der CDU und die CSU haben sich zumindest gedanklich von der Praxisgebühr verabschiedet. Die Ärzte hatten noch nie große Lust, den Kassenwart für die Krankenversicherer zu spielen. Doch Letztgenannte haben das Geld schon fest in ihre Kalkulationen eingeplant.
Nun kippt auch der Bayer um: Mit der CSU hat sich nach FDP und Teilen der CDU auch die dritte Regierungspartei zumindest gedanklich von der ungeliebten Praxisgebühr verabschiedet. Selbst ihre Erfinderin, die SPD, fordert die Abschaffung. Und die Ärzte hatten noch nie große Lust, den Kassenwart für die Krankenversicherer zu spielen. Das Ende eines großen Missverständnisses scheint demnach nah. Wenn aber fast alle Beteiligten meinen, die Zehn-Euro-Gebühr könne weg, stellt sich dem Außenstehenden die Frage, warum es sie dann immer noch gibt.
Darauf gibt es zwei Antworten, die beide nichts mit der Praxisgebühr als solcher zu tun haben. Denn es verhält sich mit Extraeinnahmen so, dass sie a) ersetzt werden wollen, egal, für wie falsch man sie hält, und b) prima als Verhandlungsmasse für koalitionsinterne Streitigkeiten taugen. In diesem Fall als Faustpfand der CSU für das Betreuungsgeld.
Die Abschreckungs-Strategie
Entscheidend ist aber Ersteres: Geld, das einmal in die verwobenen Finanzströme des Gesundheitssystems gepumpt wurde, lässt sich nur ganz schwer wieder abzapfen. Die Praxisgebühr ist ein Paradebeispiel dafür. 2004 eingeführt, sollte sie die Deutschen, mit 18 Arztbesuchen im Jahr unangefochtene Weltmeister, von unnötigen Praxisgängen abhalten. Wer zehn Euro zahlen müsse, renne nicht mit jedem Schnupfen zum Arzt, so das Kalkül. Diese im Politsprech „Lenkungswirkung“ genannte Abschreckungs-Strategie ging zunächst sogar auf – allerdings an der falschen Stelle. 2004 gingen die Arztbesuche im zweistelligen Prozentbereich zurück. Wie spätere Studien feststellten, blieben jedoch vor allem Geringverdiener den Praxen fern, zum Teil auch mit ernsthafteren Erkrankungen. Doch bis 2007 war das alte Niveau wieder erreicht, die Wirkung verpufft.
Zwei Milliarden Euro, fest verplant
Auf die zehn Euro verlassen konnten sich seit Einführung der Praxisgebühr die Kassen – rund zwei Milliarden Euro nahmen sie jedes Jahr ein. Das ist auch der Grund, warum sie sich gegen die Abschaffung sperren. Nicht, weil sie die Gebühr für sinnvoll halten, sondern weil sie Ersatz für das fest eingeplante Geld haben wollen. „Populäre Schnellschüsse sind hier keine Lösung“, sagte Christoph Straub dieser Zeitung. Der Chef der Barmer GEK, Deutschlands größter Kasse, schlägt vor: „Stattdessen sollten wir uns nach der Bundestagswahl die Steuerungswirkung und Belastungsgerechtigkeit sämtlicher Zuzahlungen anschauen.“
Einen solch großen Wurf scheut die Politik jedoch allein schon aus Selbstschutz, müsste sie sich schließlich bei jeder gestrichenen Zuzahlung mit diversen Lobbygruppen anlegen. Der Blick aufs große Ganze wäre auch vor dem Wähler höchst unangenehm: Er würde zeigen, dass die Praxisgebühr nur eines von vielen Beispielen für die von der Politik gewollte Mehrbelastung von Kranken ist. Um Arbeitgeber und die Gesunden zu entlasten, stiegen die Zuzahlungen in fast allen Bereichen – für Arzneien, Klinikaufenthalte, Hilfsmittel, Krankentransporte und vieles mehr. Von einer etwaigen Lenkungswirkung war hier nie die Rede, sondern schlicht und ehrlich von „Selbstbehalt“. Dass diese Extrakosten noch einmal sinken könnten, steht eher nicht zu erwarten – sie sind fest verplant, wenn man so will, systemrelevant.
Die Politik lässt die Kranken zahlen
Das gilt auch für den Zusatzbeitrag von 0,9 Prozent, den die Versicherten seit 2005 allein zahlen müssen. Damit sollten sie ihren Zahnersatz und das Krankengeld selber finanzieren. Kanzler Schröder wischte das zwar mit dem dem netten Satz weg: „Ich möchte nicht, dass man den sozialen Status der Menschen wieder an ihren Zähnen ablesen kann.“ Die dafür von Ulla Schmidt veranlagten 0,9 Prozent werden trotzdem kassiert, nur unter anderem Namen. Dass seitdem Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht mehr gleich viel in die Krankenkasse zahlen, ließe sich sozialpolitisch hinterfragen. Die Politik belässt es aber dabei, weil sie sonst entweder den Kassen oder den Arbeitgebern Geld wegnehmen und sich entsprechend streiten müsste.
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Zum Vergleich: Der Zusatzbeitrag kostet einen Durchschnittsverdiener 353 Euro im Jahr. Mit der Praxisgebühr würde er maximal 40 Euro sparen. Ihre Abschaffung wäre also ein Fehlereingeständnis, das sich die Politik leisten könnte.