Chicago. . Seit mehr als einer Woche sind die 26.000 Lehrer in der US-Metropole Chicago im Streik. Der Arbeitsausstand wird zur Kraftprobe der Lehrer-Gewerkschaft mit Chicagos Bürgermeister Emmanuel - und indirekt auch für US-Präsident Obama. Ausgerechnet in der Endphase des Präsidentschaftswahlkampfs.
Wenn Michelle Obama von ihrer Jugendzeit auf der heruntergekommenen South Side von Chicago erzählt, fällt ein Wort besonders häufig: Bildung. Die Frau von US-Präsident Barack Obama wird nie müde, Eltern und Kindern einzubläuen, dass nur eine gute Schulbildung gesellschaftlichen Aufstieg möglich macht. Und verhindert, was in den innerstädtischen Randzonen der drittgrößten Stadt Amerikas traurige Realität ist: Drogen-Kriminalität, die unter jugendlichen Arbeitslosen immer mehr Tote fordert.
Seit über einer Woche ist Schulbildung in der Metropole am Lake Michigan aber kaum möglich. 26.000 Lehrer sind im Streik, zum ersten Mal seit 25 Jahren. Auf dem Rücken von 400.000 Schülern tragen sie einen erbitterten Kampf um Geld und Einfluss mit Bürgermeister Rahm Emanuel aus, der vor zwei Jahren noch Obamas Stabschef im Weißen Haus war. Tausende Eltern sind entrüstet und machen sich in den Internet-Foren der Zeitungen Luft.
Chicagos Bürgermeister will Lehrer zurück zur Arbeit zwingen
“Wir fühlen uns in Geiselhaft genommen”, sagt stellvertretend für viele Tiffany Smith. Wie ihr Mann, so ist auch die 36-Jährige voll berufstätig. Und darauf angewiesen, dass ihre drei Kinder Chamar, Christian und Chardeney tagsüber in der Schule sind. “Das ist der sicherste Ort hier in der Gegend”, berichtet Smith, “die Kinder auf der Straße zu lassen, ist dagegen unverantwortlich.” Karin Lewis, die ebenso stattliche wie hartnäckige Chefin der mächtigen Lehrer-Gewerkschaft CTU, kennt das Argument. Einlenken will sie trotzdem vorläufig nicht.
Obwohl Schulexperten außerhalb Chicagos das am Freitag mit der Schulbehörde ausgehandelte Paket als “Sieg der Gewerkschaft” bezeichnen, wollen Lewis und ihre Getreuen nachdenken, sprich: nachverhandeln. Bürgermeister Emanuel, ohnehin kein Verfechter diplomatischer Gangart, platzte am Wochenende die Hutschnur. Er will die Lehrer per Gerichtsbeschluss zurück an den Arbeitsplatz zwingen. “Dieser Streik ist völlig überflüssig. Ich werde nicht zusehen, dass unsere Kinder auf ihre Schulbildung verzichten müssen”, sagte er der “Chicago Tribune”.
Seine Argumente verfangen bei vielen Eltern. Danach bekommen die mit durchschnittlich 71.000 Dollar Jahresgehalt bereits bestbezahlten Lehrer im öffentlichen amerikanischen Schulsystem über die nächsten vier Jahre 16 Prozent mehr Gehalt; obwohl der drittgrößte Schulbezirk des Landes bereits mit einer Milliarde Dollar in der Kreide steht. Im Gegenzug erwartet Emanuel im Sinne der von Präsident Obama verfolgten Schulreform (“No Child Left Behind” – Kein Kind wird zurückgelassen) Entgegenkommen bei dem Bemühen, die im internationalen Vergleich oft lausige Qualität des Unterrichts zu steigern.
Chicagos Schulmisere ist symptomatisch für das marode öffentliche Schulsystem der USA
In Chicago schaffen gerade mal 60 Prozent der Schüler einen Abschluss auf Hauptschul-Niveau. Mit Hilfe standardisierter Tests soll die Leistungsfähigkeit der Klassen künftig regelmäßig überprüft werden – und damit auch die der Lehrer. Beförderungen und leistungsgerechte Bezahlung will Emanuel von den Testergebnissen abhängig machen. Wie auch im Falle eines Falles die Entlassung. “Nicht mit uns”, kontert Karen Lewis. Die Gewerkschafts-Chefin stellt in Abrede, dass die Arbeitskraft eines Lehrers objektiv gemessen werden kann. “Umweltfaktoren wie Elternhaus, Migrationshintergrund oder Armut spielen eine größere Rolle”, sagt sie. Intern hat die CTU, die “Chicago Teachers Union”, nachgerechnet: Kommt das Kontroll-Regime der Stadtspitze, stehen bis zu 6000 Lehrer vor dem Aussieben.
Die Kraftprobe zwischen Staat und Gewerkschaft in Obamas Heimatstadt wird landesweit genau verfolgt. Nicht nur wegen des Präsidentenwahlkampfes, in dem der Amtsinhaber auf die Gefolgschaft und Spendenbereitschaft der in der Regel den Demokraten zuneigenden Gewerkschaften baut.
Chicagos Schulmisere steht symptomatisch für das in ganz Amerika marode öffentliche Schulsystem. In Naturwissenschaften und Mathematik rangieren die Vereinigten Staaten im Weltmaßstab auf den hinteren Plätzen und verlieren so an Wettbewerbsfähigkeit. Vor allem Kinder von Afro-Amerikanern und der starken Latino-Gemeinde fallen durch den Rost. Tiffany Smith macht sich Sorgen. “Jeder Tag ohne Unterricht ist für meine Kinder ein verlorener Tag.”