Frankfurt/Brüssel. EZB-Chef Draghi kündigt unbegrenzten Kauf von Anleihen der Krisenstaaten an. Unter Experten gilt das als die beinahe ultimative Waffe im Kampf gegen den Zerfall der EU. Kritiker monieren, dass die Maßnahme ein Fass ohne Boden sein könnte. In Deutschland wächst die Inflationsangst.
Die Europäische Zentralbank (EZB) wird in der Euro-Schuldenkrise weiter Feuerwehr spielen, allerdings unter klaren Bedingungen. Gegen die Stimme von Bundesbank-Präsident Jens Weidmann beschloss der 22-köpfige Rat der Notenbank am Donnerstag ein neues Programm zum Ankauf von Staatsanleihen der Euro-Krisenstaaten, allerdings unter strikten Auflagen. Danach müssen die Staaten zuvor ein Anpassungsprogramm mit dem Euro-Rettungsfonds EFSF oder dem Nachfolger ESM vereinbaren, an dem sich möglichst auch der Internationale Währungsfonds (IWF) beteiligen soll. Hält sich ein Land nicht an die dort vereinbarten Reform- und Sparauflagen will der EZB nicht kaufen oder bereits angekaufte Anleihen wieder abstoßen. Prinzipiell gebe es keine Obergrenze für den Kauf von Anleihen, sagte Draghi am Donnerstag nach der Ratssitzung. Er zeigte sich von dem Programm überzeugt. „Es wird ein sehr wirksames Mittel, um zerstörerische Szenarien zu vermeiden“.
Selten in der Geschichte der Europäischen Zentralbank (EZB) war der Medienauflauf im Eurotower so groß wie an diesem Donnerstag. Mehr als ein Dutzend Fernsehkameras, rund 30 Fotografen und etwa 100 Journalisten drängten sich im Presseraum im zweiten Stock der EZB-Zentrale am Willy-Brandt-Platz, als Draghi gemeinsam mit Vize-Präsident Vitor Constancio den Saal betrat. Draghi zeigte sich erkennbar beeindruckt, blieb aber trotzdem gelassen und lächelte während seiner Erläuterungen immer wieder.
Dennoch ließ der Italiener keine Zweifel am Ernst der Lage und am festen Willen der EZB, die Krise zu bekämpfen, wenn auch die Regierungen mitziehen. Draghis Institut wird also wieder Staatsanleihen kaufen.
Griechenland, Portugal, Irland haben davon nichts
Das neue Programm mit der sperrigen Bezeichnung „Outright Monetary Transactions“ zielt in erster Linie auf Spanien und Italien, ohne dass Draghi dies offen aussprach. Die Länder, die bereits gestützt werden – also Griechenland, Portugal und Irland – werden von den Käufen nicht profitieren.
Zinsobergrenzen, über denen die EZB kauft, gibt es zumindest offiziell nicht. Gekauft werden sollen ausschließlich Anleihen mit einer Restlaufzeit von ein bis drei Jahren und dies ausschließlich nicht direkt von den Ländern, sondern auf dem Sekundärmarkt. Der Direktkauf von Staatsanleihen und damit die Finanzierung von Staaten ist der EZB verboten. Im Gegenzug zum neuen Programm stellt die EZB den bisherigen, allerdings seit Monaten ruhenden Kauf von Staatsanleihen wieder ein. Papiere für 211 Milliarden Euro hat sie bislang hereingeholt, sie sollen jetzt bis zur Fälligkeit gehalten werden.
Weidmann stand allein da
Als einziger unter den 22 Mitgliedern des EZB-Rates hält Bundesbank-Präsident Jens Weidmann auch das neue Not-Programm der EZB für den falschen Weg. Er fürchtet eine Verwischung zwischen Fiskal- und Geldpolitik. Weidmann allein stimmte am Donnerstag wie erwartet gegen das neue Programm. Das deutsche Direktoriumsmitglied Jörg Asmussen dagegen schloss sich der Mehrheit an. Draghi nannte Weidmann zwar nicht beim Namen. Er sagte aber: „Es gab eine abweichende Meinung. Sie können sich selbst denken, wer das war.“
Der Italiener sieht generell keine Missstimmung im EZB-Rat. „Natürlich hat es eine Diskussion gegeben. Die war aber nicht dramatisch. Am Schluss sind wir fast alle zusammen gekommen.“ Er freue sich aber darauf, wenn in der EZB wieder völlige Einstimmigkeit herrsche. Auch Eurogruppen-Chef Jean-Claude Juncker, der an dem Treffen teilnahm, sagte, es habe in der Sitzung keinen Ärger und keine Missstimmung gegeben.
Draghi beschwor die Unabhängigkeit der EZB
Draghi zufolge geht es auch mit dem neuen Programm darum, die „Verzerrungen“ auf den Finanzmärkten zu verhindern und damit die Wirkung der Zinspolitik der Notenbank wieder herzustellen. Die niedrigen Leitzinsen der EZB – sie bleiben weiter bei 0,75 Prozent – können derzeit vor allem die Kreditvergabe in den Krisenländern nicht beflügeln. „Wir handeln absolut im Rahmen unseres Mandats“, sagte Draghi am Donnerstag. Die EZB agiere unabhängig und tue alles, um die Preisstabilität zu wahren und den Euro zu halten.
Draghi, der am Donnerstagabend in Potsdam für sein Engagement zur Bewältigung der Krise, für die Unabhängigkeit der EZB und den Erhalt des Euro mit dem wichtigen Medienpreis M100 ausgezeichnet wurde, betonte, dass die EZB das über das neue Anleiheprogramm fließende Geld an anderer Stelle über Gegengeschäfte bei den Banken wieder einsammeln werde. Damit will sie möglichen Inflationsgefahren vorbeugen. Der seit knapp einem Jahr amtierende EZB-Präsident machte aber auch erneut deutlich, dass er von den Regierungen ein deutlich höheres Tempo bei den Reformen und den Sparmaßnahmen erwartet. „Die EZB kann nicht eingreifen, wenn die Politik nicht eingreift.“
Die Börse reagierte begeistert
An den Finanzmärkten und an der Börse wurde das neue Anleiheprogramm schon am Vormittag vor dem Votum des EZB-Rates gefeiert. Der Deutsche Aktienindex Dax kletterte bis zum Mittag über ein Prozent, nach den Erläuterungen von Draghi erhöhte sich das Plus sogar auf mehr als 2,5 Prozent auf rund 7150 Punkte und damit fast auf einen neuen Jahreshöchststand.
Den Deutschen bereitet die Krise derweil Sorge. Drei von vier Befragten haben laut einer aktuellen Studie große Angst vor den Folgen der Euro-Schuldenkrise.
Die Eckpunkte zum Anleihekauf der EZB im Überblick
Die Wirkung:
Alleine die Ankündigung eines massiven Aufkaufprogramms könnte dazu führen, dass die privaten Investoren wieder zu niedrigeren Zinsen selbst Anleihen kaufen. "Denn kein Spekulant kann gegen eine Zentralbank antreten", sagt ING-Analyst Carsten Brzeski. Mit der Knüpfung an ein ESM-Programm will Draghi verhindern, dass sich die Regierungen nach den künstlichen Zinssenkungen wieder in die Hängematte legen. Weil der Reformzwang aber natürlich im Gleichschritt mit niedrigeren Aufschlägen abnimmt, könne das Aufkaufprogramm "süchtig machen wie eine Droge", warnte Bundesbankchef Weidmann. Das gilt besonders für die zwischenzeitlich diskutierte Option, Zinsschwellen festzusetzen, ab denen automatisch gekauft wird.
Die Kritik:
Draghis Gegner wollen zum einen nicht, dass die EZB die Regierungen vor (erwünschten) Marktsanktionen für eine laxe Haushaltspolitik abschottet. Weidmann sieht überdies einen Verstoß gegen das EZB-Statut: Die Anleihenkäufe seien "zu nah an einer Staatsfinanzierung durch die Notenpresse", sagte er dem "Spiegel". Die Staatsfinanzierung ist der EZB nicht nur verboten. Sie würde auch deren Pflicht, für Preisstabilität zu sorgen, verletzen und die Inflation anheizen, fürchtet das Weidmann-Lager.
Die Rechtfertigung:
Draghi kontert, durch irrational hohe Zinsen für Länder wie Spanien oder Italien würde der niedrige Leitzins der EZB aufgefressen, komme die Geldpolitik aus Frankfurt bei den Unternehmen und Menschen in den Südländern nicht an. Die Preisstabilität in der gesamten Währungsunion sicherzustellen "kann hin und wieder außergewöhnliche Maßnahmen erfordern", schrieb er in einem Gastbeitrag für "Die Zeit". Dafür bekommt er sogar Rückendeckung von Wirtschaftsminister und FDP-Chef Philipp Rösler: Er sagte der "Berliner Zeitung", die EZB beschränke "sich auf ihr Mandat, die Geldwertstabilität zu sichern".
Inflationsgefahr infolge der aufgepumpten Geldmenge fürchten Befürworter der Anleihenkäufe wegen der wirtschaftlich angespannten Lage nicht. "Das Inflationsrisiko erscheint angesichts des durchwachsenen Ausblicks beherrschbar", sagt etwa ING-Analyst Brzeski.
Die Knackpunkte:
Das Eingreifen der EZB könnte auch einen störenden Effekt für den Anleihenmarkt erzeugen. Wenn es nämlich doch zu einer Pleite käme, könnte sich die Zentralbank schadlos halten, und die Privatinvestoren müssten bluten. Genau dazu ist es beim Schuldenschnitt für Griechenland gekommen. Um sich davor zu schützen, könnten Anleger ganz darauf verzichten, in Konkurrenz zur EZB Anleihen zu kaufen.
Aber auch die Bedingung Draghis, nur zusammen mit dem Rettungsschirm ESM einzugreifen, stößt auf Vorbehalte. "Ich weiß nicht, ob eine Verknüpfung der EZB-Aktionen mit ESM-Aufkäufen der programmpolitisch letzte Schluss war", sagte Thomas Wieser, der die Arbeitsgruppe der 17 Euro-Finanzstaatssekretäre leitet, der Nachrichtenagentur dapd.
Die alles entscheidende Frage aber ist, ob Draghis Bazooka zu einer Eindämmung der Krise führen wird. Verpufft die Wirkung, dann müsste die EZB wohl tatsächlich ohne Limit Anleihen erwerben. Und dann würde nicht nur ein reales Inflationsrisiko entstehen. Auch der ESM käme schnell an seine Grenzen, wenn er mitkaufen müsste. Und dann würde die erhoffte Beruhigung in Panik umschlagen. (afp/reuters/dapd)