Rostock. . Rostock gedachte am Sonntag des ausländerfeindlichen Pogroms von 1992. Mit dabei: Bundespräsident Joachim Gauck, selbst ein Rostocker. „Unsere Heimat kommt nicht in braune Hände“, sagt er. Doch das ist leichter gesagt als getan.

„Rostocking“. Manche in der englischsprachigen Welt nennen so fremdenfeindliche Ausschreitungen. Das Synonym muss Joachim Gauck treffen. Er ist in der Hansestadt geboren. Er war hier Pastor. Heute ist Gauck Bundespräsident.

An diesem Wochenende hat er im Stadtteil Lichtenhagen vor den elf Stockwerken des Sonnenblumenhauses daran erinnert, was vom 22. bis zum 26. August 1992 zwischen den Plattenbauten passierte. Es waren die schwersten Krawalle gegen Ausländer in der Nachkriegszeit. Es war Pogrom.

Vier Tage im Sommer

Eine Meute Mensch, vielleicht 2000 Köpfe stark, versammelte sich damals, um Asylbewerber und Gastarbeiter – Sinti, Roma, Vietnamesen – in die Enge zu treiben. Man rief: „Deutschland den Deutschen.“ Man warf Steine und Molotowcocktails und johlte, wenn sie trafen.

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Die Polizei des jungen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern guckte zu und zog sich am Abend des 23. ganz zurück. Am 24. stürmten Randalierer den Eingang Nummer 19. Sie legten in den unteren Etagen Brände. In den oberen Etagen saßen 115 ängstliche Männer, Frauen, Schwangere, Babys in der Feuerfalle.

Wo ist die Ursache?

„Die Vergangenheit führt uns zusammen. Die Gegenwart braucht unsere Wachsamkeit“, sagt Gauck. „Wie konnte es dazu kommen?“, fragte der Präsident gestern auf der Bühne vor dem Sonnenblumenmosaik. „Organisierte gewalttätige Ausschreitungen“ seien es gewesen. Die Menge habe die Gewalttäter vor der Polizei geschützt, die Feuerwehr am Löschen gehindert. Die Fremdenfeindlichkeit habe es „in die Mitte der Gesellschaft“ geschafft. Gauck glaubt: „Fremdenfeindlichkeit – die gab es auch im Westen.“ In Solingen und Mölln. Aber hier sei „die Furcht vor der Freiheit umgeschlagen in Wut und Aggression.“

24.08.1992, abends

Wolfgang Richter erinnert sich an die zwei schlimmsten Stunden seines Lebens: „Die Chaoten sind unten durch die Tür eingedrungen. Ich habe telefoniert. Die Polizeiinspektion Lütten Klein hat nicht begriffen, um was es geht.“ Der Mann mit den weißen Locken war damals Ausländerbeauftragter in Rostock. Er hatte den Innenminister in Schwerin immer wieder vor dieser Wahnsinns-Mixtur gewarnt: Arbeits- und orientierungslose Ex-DDR-Bürger. Die Asyl-Meldestelle im Sonnenblumenhaus.

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Der „Stau“ davor: campierende Sinti und Roma, die nicht hinein durften. Am Ende: eine verunsicherte Polizei, die oft die alte war und im neuen Staat keinen Respekt mehr fand. War das zusammen nicht ein einziger Brandsatz? Es könne Tote geben, hatte Richter damals gemahnt. Dann, am 24. August abends, zitterte er mit eingesperrt unter dem Plattenbau-Dach in der Mecklenburger Allee. Unten brüllte der Mob: „Ausländer raus“.

Täter, Mob und Staat

Phuong Kollath saß gestern neben Joachim Gauck. Die Stadt Rostock hätte gerne mehr der früheren Opfer dabei gehabt. Von den Sinti und Roma ist keiner gekommen, von den 40 eingesperrten Vietnamesen der Nr. 19, die heute noch in Rostock leben, nur vier. Die anderen wollten nicht. Phuong Kollath wohnte schon am Brandabend nicht mehr dort. Als sie später ins Sonnenblumenhaus zurückkehrte, sah sie schwarze Trümmer und den Rauch über Lichtenhagen. „Ich habe nicht gedacht, dass Deutsche das tun können“, sagt sie.

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Doch welche Deutschen waren es? Rechte aus Hamburg? Nachbarn aus Lichtenhagen? Wolfgang Richter lässt seinen Rostocker Mitbürgern die These der „angereisten Neonazis“ auch zwanzig Jahre später nicht ganz durchgehen. Die Nazis seien erst am Sonntag gekommen, „auf den fahrenden Zug gesprungen“. Vorher – da war das eine „Rostocker Angelegenheit“. Gauck teilt die Einschätzung – und hat nicht nur die aufgeputschten Bürger im Blick: „Wo blieb die Staatsmacht. Wo blieb die Polizei?“ „Keine Entschuldigung“ könne es dafür geben, dass Sicherheitsbehörden versagt haben, sondern nur eine Verpflichtung: „Demokratie muss wehrhaft sein.“

Die Flucht über das Dach

Die 115 Vietnamesen und Richter sind damals „wie durch ein Wunder“ (Gauck) entkommen. Während das Feuer Stockwerk für Stockwerk höher kroch, stemmten sie ein Dachfenster auf. „Der einzige Weg, der für uns offen war, um über das lange Wohnblockdach aus dem brennenden Bereich fliehen zu können.“ Richter erzählt das oft in diesen Tagen.

Gegenwart und Zukunft

Die Polizei hat vor Gaucks Rede, in der Nacht zu gestern, zehn junge Rechte erwischt. Sie wollten Lichtenhagen mit Parolen zuschmieren. Sonst ist der Gedenktag, von ein paar Störern während der Präsidentenrede abgesehen, versöhnlich verlaufen. Unter dem Schutz von Hundertschaften der Polizei haben 4000 Menschen zu Offenheit und Toleranz gemahnt. Viele von ihnen waren noch gar nicht geboren, als es hier brannte. Sie sind in 40 Rostocker Vereinen engagiert, die über 100 Integrations-Projekte betreuen. Es gibt auch andere, die nicht erinnert werden möchten. Scham? Fehlende Einsicht? Ein Mann in der Menge sagt: „Immer kommt ein Kamel und reißt das auf, über das Gras gewachsen ist.“

„Kein Gras darf drüber wachsen“, warnt Joachim Gauck. „Unsere Heimat kommt nicht in braune Hände.“ Er hat noch zu tun. Die Bundesregierung hat in der letzten Woche bestätigt, dass es im Juni 898 Straftaten „politisch motiviert – rechts“ gegeben hat. 41 Menschen wurden verletzt. Alltag im vereinten Land. Berlin meldet so etwas jeden Monat.