Rostock. Der Politikwissenschaftler Thomas Prenzel hat Ursachen und Folgen der Krawalle in Rostock-Lichtenhagen erforscht. Er erklärt, warum man von einem „Pogrom“ sprechen darf, welches Interesse die Behörden daran hatten und warum Roma-Gruppen auf eine Einladung zur Gedenkfeier warten mussten.

Der Politikwissenschaftler Thomas Prenzel von der Universität Rostock hat Ursachen und Folgen der Krawalle in Rostock-Lichtenhagen erforscht. Vor dem Jahrestag sprachen wir mit ihm am Telefon.

Für das, was vor 20 Jahren in Rostock passiert ist, gibt es viele Namen: Ausschreitungen, Krawalle, Pogrom. Ist es richtig, von einem Pogrom zu sprechen?

Thomas Prenzel: Der Begriff wurde lange eher vorsichtig benutzt. Je größer der zeitliche Abstand, desto öfter taucht er aber auf. Er birgt natürlich die Gefahr, die Pogrome der Nationalsozialisten von 1938 zu relativieren. Aber der Begriff trifft es: ein mehrere Tage dauernder Angriff auf eine stigmatisierte Gruppe, der von einem Großteil der Bevölkerung unterstützt wird. Dazu die mediale Begleitung, die breite Übereinstimmung mit den Ressentiments der Angreifer, die relative Unfähigkeit der Sicherheitsbehörden.

Sie haben untersucht, wie Politik, Verwaltung und Medien die Probleme in Lichtenhagen eskalieren ließen. Welches Interesse hatten die daran?

Prenzel: Der Journalist Jochen Schmidt, der damals mit in dem brennenden Gebäude war, äußerte später den Verdacht, Lichtenhagen sei bewusst inszeniert worden. Aber das lässt sich schon aufgrund der Vielzahl der Akteure nicht eindeutig sagen. Demokratische Politik ist nur schwer steuerbar. Aber es ist erkennbar, dass sich fast niemand aus der Politik, der Zivilgesellschaft, den Medien oder auch der Nachbarschaft der stetigen Eskalation entgegengestellt hat.

Ein Großteil der Rostocker ZASt-Bewohner waren Roma. In der Öffentlichkeit wurden sie pauschal als Wirtschaftsflüchtlinge wahrgenommen, als „Scheinasylanten“.

Prenzel: Die Situation der Roma in der Heimat und auch in der ZAst wurde durchweg nicht thematisiert, sie bekamen keine Stimme. Sie waren gezwungen, unter entsetzlichen Umständen zu campieren – aber man hat es als ihre kulturelle Eigenart dargestellt. Auch später wurde die Situation der Flüchtling eigentlich nicht hinterfragt. Ganz offenbar wirkt die Ressentiment-geleitete Ausgrenzung der Roma bis heute fort: In den Gedenkveranstaltungen haben ihre Erinnerungen keinen Platz.

Was wurde aus den Bewohnern der Aufnahmestelle?

Prenzel: Die Roma wurden fast alle abgeschoben.

Heute trifft man schnell auf Desinteresse

Wie denken die Einwohner von Rostock-Lichtenhagen heute über Ausländer?

Prenzel: Darüber gibt es bisher leider keine Forschungen oder Langzeitstudien. Zwar existieren Initiativen wie „Lichtenhagen bewegt sich“, die die Ereignisse von damals aufarbeiten wollen. Die berichten aber, dass sie in Lichtenhagen nicht selten auf Desinteresse stoßen, auf eine Verweigerungshaltung. Und die Ressentiments leben fort. Die Gewalt wird zuweilen noch heute gerechtfertigt mit den Zuständen, die angeblich die Flüchtlinge verursacht hätten. Dann heißt es, dass die Angriffe nicht mehr in Ordnung gewesen seien, als es später gegen die Vietnamesen ging.

Die Asylpolitik spielte vor 20 Jahren eine ganz andere Rolle als heute.

Prenzel: Die Asyldebatte war eines der großen Themen damals, das hatte schon in der alten BRD angefangen und wurde dann in die neuen Bundesländer übertragen. Dort traf die Asyldebatte auf den Einheitsnationalismus, der sich nach 1989 Bahn gebrochen hatte.

Viele Kommunen klagten über die Asylanten

Nach der Wiedervereinigung mussten auch die östlichen Länder Asylbewerber aufnehmen. Hat der Westen die ostdeutsche Gesellschaft damit überfordert?

Prenzel: Die lokalen Behörden wurden von der Durchsetzung der zunehmend restriktiveren Vorgaben der Bundespolitik herausgefordert. Das gab es aber auch in der Alt-Bundesrepublik: Viele Kommunen klagten. Im Falle Rostocks zeigten sich Verantwortungsträger aus Stadt und Land unfähig und Unwillens, zeitnah und pragmatisch Lösungen zu suchen. Stattdessen versuchten einige Akteure, mit der katastrophalen Lage Einfluss zu nehmen auf die Asyldebatte.

Welche Auswirkungen hatten die Ereignisse von Rostock?

Prenzel: In den Medien wurde rechte Gewalt schon länger benutzt, um die Notwendigkeit einer Grundgesetzänderung zu belegen. Lichtenhagen hat dann den Asylkompromiss, also die Einschränkung des Asylrechts, sicher beschleunigt. Die Täter von Lichtenhagen durften sich damit als Vollstrecker eines scheinbaren „Volkswillens“ fühlen, die die Politik vor sich hertrieben. Es war eine Art Fanal für die rechte Szene und weitere Gewalt.

Eine Verstetigung des Erinnerns wäre dringend nötig

Wird an dieses Stück Geschichte angemessen erinnert?

Prenzel: Es gibt vielfältige Formen der Erinnerung: Kundgebungen, Bürgerfeste, Theaterstücke, Ausstellungen. In der Regel finden sie jedoch nur zu größeren Jahrestagen statt, lassen sich konjunkturelle Phasen des Gedenkens feststellen. Eine Verstetigung des Erinnerns ist aber bis heute nicht zu finden, eine öffentliche Debatte über ein Mahnmal oder eine Dauerausstellung überfällig.

Woran liegt das?

Prenzel: Desinteresse, Verdrängung, die Wahrnehmung des Geschehenen als Makel. Und: Der Alltagsrassismus lebt fort. Bis heute werden die Roma aus der Debatte ausgeblendet. Als die Stadt Rostock die Einladungen zu ihrer Gedenkfeier verschickte, wurde der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma anfänglich vergessen.