Essen/Rostock. . Vor 20 Jahren begann der ausländerfeindliche Pogrom in Rostock. Tagelang belagerten aufgebrachte Randalierer die Plattenbauten, vor denen Flüchtlinge aus Rumänien campierten. Am Ende warfen Rechtsradikale unter dem Beifall tausender Bürger Molotow-Cocktails. Es war eine Zeit, in der „Asyl“ bestimmendes Thema der Politik war. Chronik eines Skandals.

Dezember 1990: Nach der Wiedervereinigung werden auch den neuen Bundesländern Asylbewerber zugeteilt. Mecklenburg-Vorpommern richtet eine Zentrale Aufnahmestelle (ZAst) ein. Sie zieht ins Sonnenblumenhaus, einen Plattenbau in Rostock-Lichtenhagen.

Sommer 1991: Es kommen immer mehr Flüchtlinge, vor allem Sinti und Roma. Republikaner und DVU wettern gegen „Scheinasylanten“ und erringen große Erfolge bei Landtagswahlen.

Die Unionsparteien machen Druck auf die SPD: Sie soll einer Grundgesetzänderung zur Einschränkung des Asylrechts zustimmen. Im September belagern Rechte ein Ausländerheim in Hoyerswerda. Angriffe auf Fremde sind in Ostdeutschland jetzt an der Tagesordnung.

Fünffach überfüllt

Sommer 1992: Die ZAst in Rostock ist fünffach überfüllt. Die Stadt lehnt es aber ab, die Unterkunft auszubauen. „Man hätte nur noch mehr Asylbewerber angelockt“, sagt Innensenator Peter Magdanz (SPD). Man wird ihm und anderen später vorwerfen, sie hätten die ­Lage vorsätzlich eskalieren lassen, um „Bonn“ vorzuführen, wie sehr das Asylrecht missbraucht werde.

Hunderte Asylsuchende müssen vor dem Sonnenblumenhaus ­campieren, ohne Extra-Toiletten. „Da waren Leute mit kranken ­Kindern. Wir wurden erniedrigt, wir hatten Hunger“, berichtet einer. Wer immer schon glaubte, „Zigeuner“ seien schmutzig, der findet sich jetzt bestätigt.

Mittwoch, 19. August: Ein Anonymus lädt in den Norddeutschen Neuesten Nachrichten zum Pogrom: „In der Nacht vom Samstag zum Sonntag räumen wir in Lichtenhagen auf.“ Und via Ostsee- Zeitung sagt einer: „Die Leute, die hier wohnen, werden aus den Fenstern schauen und Beifall klatschen.“

Steine, Flaschen, Brandsätze. Anwohner applaudieren

Samstag, 22. August: Mehrere ­tausend Menschen versammeln sich vor dem Sonnenblumenhaus. Es fliegen Steine, Flaschen, Leuchtraketen und Brandsätze gegen die ZAst und das benach­barte Wohnheim für vietna­mesische Arbeiter. Einige Hundert rufen „Ausländer raus!“ und „Sieg Heil!“ 20 Polizisten in Sommer­uniform sind schnell verprügelt. Erst die eigene Müdigkeit stoppt die Angreifer, da ist es 5.30 Uhr.

Sonntag, 23. August: Die Angriffe gehen weiter. Tausende Anwohner applaudieren, man verpflegt sich an Imbissständen. Jetzt sind 350 Polizeibeamte im Einsatz, doch Rechte stürmen das vietname­sische Wohnheim und gelangen bis in den 6. Stock. Die Polizei kann sie zumindest wieder herausholen. Gegen 22 Uhr beginnt die Antifa eine Gegendemo, die von der Polizei entschlossen aufgelöst wird.

Die Polizei zieht sich erschöpft zurück

Montag, 24. August: Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) kommt nach Rostock. In einer Pressekonferenz klagt er über Wirtschaftsflüchtlinge und „Missbrauch des Asylrechts“. Ministerpräsident Berndt Seite (CDU) ­äußert Verständnis dafür, „dass das natürlich teilweise umschwappt, wenn man in der Menge ist“.

Am Nachmittag wird die ZAst geräumt, Busse fahren die Bewohner in andere Asylbewerberheime. An die Vietnamesen denkt keiner.

Auch interessant

Am Abend rotten sich wieder Tausende zusammen. Doch die Polizei zieht sich erschöpft zurück. Das vietnamesische Wohnheim ist jetzt ungeschützt. Bewaffnete Rechte stürmen es und legen Feuer.

Es dauert eineinhalb Stunden, bis die Polizei zurückkehrt und der Feuerwehr den Weg frei kämpft. Während sie draußen „Wir kriegen Euch alle!“ rufen, rütteln drinnen 120 Vietnamesen, ein paar deutsche Helfer und ein Team des ZDF an abgeschlossenen Notaus­gängen. Mit Glück schaffen sie es über das Dach ins Nebenhaus. Von dort werden die Vietnamesen in Busse geleitet und abtransportiert.

Die Roma von Lichtenhagen: abgeschoben

Dienstag, 25. August: Lichten­hagen ist „ausländerfrei“, jubeln die Rechten. Doch die Randale geht weiter. Autos brennen und am 27. August klagt eine Frau in der Ostsee-Zeitung: „Jetzt reicht es langsam. Nun geht es schon gegen die eigene Bevölkerung.“

Oktober 1992: Union und FDP ­erhöhen den Druck auf die SPD, einer Einschränkung des Asylrechts zuzustimmen. Bundes­kanzler Helmut Kohl (CDU) spricht von „Staatsnotstand“.

7. Dezember 1992: Die SPD einigt sich mit der Regierungskoalition auf den „Asylkompromiss“. Er tritt 1993 in Kraft. Die Drittstaaten­regelung, die Definition sicherer Herkunftsländer und die Einführung von Kontingenten beschränken das individuelle Asylrecht. Kritiker sagen, es sei abgeschafft.

Die Bewerberzahlen sinken ­wieder. Die Roma von Lichten­hagen werden abgeschoben.