Essen. Immer mehr Menschen in Deutschland nehmen die Hilfe der Tafeln in Anspruch. 1,5 Millionen Bedürftige wurden im vergangenen Jahr unterstützt, teilte der Bundesverband Tafeln am Mittwoch mit. Tendenz: weiter steigend. Der Verband wirft der Politik vor, Armut nicht ausreichend zu bekämpfen. Doch es gibt auch Kritik am System der Tafeln selbst.
"Kapazitäten erschöpft" meldete die Tafel in Bad Berleburg im Januar - noch mehr Menschen könne man nicht unterstützen. In Hagen stellt der "Warenkorb" der Caritas seit Juni keine neuen Berechtigungsausweise mehr aus - der Ansturm sei zu groß, heißt es. Und in Essen werden die Berechtigungsscheine für die Tafel bereits seit Mitte 2009 nur noch jeweils befristet für ein Jahr vergeben. Erst nach einem Jahr Pause können Bedürftige dann wieder ein Jahr lang Lebensmittel an der Ausgabestelle bekommen. "Der Bedarf steigt stetig", sagt dort der 2. Vorsitzende Klaus Wehlmann.
Drei Beispiele aus NRW - drei Beispiele, die zeigen: Die Nachfrage nach Lebensmitteln, die nichts oder nur einen symbolischen Betrag kosten, ist groß. 1993 wurde die erste Tafel in Berlin gegründet. Die Idee: Das, was die Überflussgesellschaft verschmäht, wird weitergereicht an die, die es nötig haben. Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden können, aber noch einwandfrei sind: Joghurt, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum näherrückt. Brot vom Vortag. Obst und Gemüse mit kleineren Macken oder Dellen. All das wird gesammelt und neu verteilt. Ursprünglich wurden so in Berlin Obdachlose versorgt.
900 Tafeln unterstützen rund 1,5 Millionen Menschen
Heute gibt es nach Angaben des Bundesverbandes Deutsche Tafel deutschlandweit knapp 900 Tafeln mit rund 50.000 ehrenamtlichen Helfern, die im vergangenen Jahr rund 1,5 Millionen Menschen unterstützt haben: Hartz-IV- und Sozialhilfeempfänger, "Aufstocker", deren Verdienst nicht reicht, Senioren mit schmaler Rente. "Der Anteil der Familien mit Kindern und der der Senioren unter den Tafel-Nutzern nimmt weiter zu", bilanziert der Bundesverband, der ab Donnerstag im thüringischen Suhl sein jährliches Bundes-Tafel-Treffen abhält.
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Verbandsvorsitzender Gerd Häuser blickt besorgt in die Zukunft: "Angesichts von Millionen Geringverdienern wird die Zahl der Altersarmen in Zukunft sicher weiter steigen. Das wird sich auch bei den Tafeln noch viel stärker bemerkbar machen", sagte er am Mittwoch und bemängelte eine "weitgehend gescheiterte" Sozialpolitik in Deutschland. "Ob Kinderarmut, Altersarmut, prekäre Beschäftigungsverhältnisse oder die Arbeitsmarktchancen Alleinerziehender. Eine sinnvolle Strategie zur Bekämpfung der Armut in Deutschland scheint es nicht zu geben."
Tafeln wollen "helfen, Armut zu lindern"
"Die Tafeln können Armut nicht abschaffen", sagt Anke Assig, Sprecherin des Bundesverbandes. "Aber sie können einen kleinen Teil dazu beitragen, Armut zu lindern." Genau das stößt Kritikern sauer auf. Kurz vor dem 20. Geburtstag der Tafeln hat sich Anfang Juni ein kritisches Aktionsbündnis aus Sozialwissenschaftlern, Sozialarbeitern und interessierten Bürgern gegründet. Das Motto: "Wir haben es satt! Armut bekämpfen statt Armut lindern".
Der Boom der Tafeln sei das "Ergebnis des kontinuierlichen Abbaus des Sozialstaates", schreibt das Bündnis in einem offenen Brief vor dem Bundestafeltreffen. "Anstatt Armut nachhaltig durch politisches Handeln zu bekämpfen, wird die private Wohltätigkeit als kostengünstiger Ersatz instrumentalisiert und gefeiert."
Kritiker prangern das System der Tafeln an
Die Tafeln seien zu einem "gigantischen Sekundärmarkt geworden", der am eigentlichen Problem der Armut nichts ändere, sondern es stattdessen verdecke, sagt Stefan Selke. Der Soziologe leitet das Lehrgebiet "Gesellschaftlicher Wandel" an der Hochschule Furtwangen, ist Mitbegründer des "Kritischen Aktionsbündnisses 20 Jahre Tafeln" sowie der "Forschungsgruppe Tafeln" und beschäftigt sich seit mehreren Jahren intensiv mit dem Thema.
Nach seiner Kritik gefragt, redet sich Selke regelrecht in Fahrt. Die Tafeln, findet er, seien "ein System geworden, eine Marke", die mittlerweile "ohne Weitsicht, sondern aus Eigeninteresse helfe". Eine Mahlzeit-Nothilfe für Obdachlose habe sich zur einer Art Logistik-Unternehmen entwickelt. Und: Die Grenzen zwischen dem Sozialstaat und privater Wohltätigkeit verschwämmen durch das nahezu flächendeckende, institutionalisierte Tafel-System zunehmend, moniert Selke.
Ämter schicken Bedürftige wie selbstverständlich zur Tafel
Was er damit meint? Zum Beispiel das: Nicht selten kommt es offenbar mittlerweile vor, dass Ämter Empfänger von Arbeitslosengeld II oder Grundsicherung wie selbstverständlich an die Tafel verweisen. Klaus Wehlmann, der 2. Vorsitzende der Essener Tafel, bestätigt das. "Das ist die größte Sauerei!", schimpft er. Darüber habe man sich schon mehrfach bei der Stadt und dem Jobcenter beschwert. Schließlich seien die Tafeln nicht dazu da, Hartz-IV-Empfänger zu versorgen, sondern "eigentlich angetreten, den Schwachsinn der Lebensmittelverschwendung zu beenden", sagt Wehlmann.
Auch Tafel-Bundesvorsitzender Gerd Häuser wehrt sich dagegen, "von der Politik zum Lückenbüßer für eine unzureichende soziale Grundsicherung gemacht" zu werden. Was die Tafeln verteilten, müsse eine zusätzliche Hilfe bleiben, sagt er. Und Anke Assig, die Tafel-Sprecherin, wird nicht müde zu betonen, dass die Tafeln "den Sozialstaat und sozialstaatliche Fürsorge nicht ersetzen können und wollen!"
Theoretisch fordern sie beide also Ähnliches, die Tafel-Funktionäre und Tafel-Kritiker Stefan Selke: Dass die Politik das Thema Armut ernst nimmt, dass sie für existenzsichernde Einkommen sorgt, allen Bürgern zu gesellschaftlicher und sozialer Teilhabe verhilft. Für Stefan Selke und das Aktionsbündnis liegt die Schlussfolgerung auf der Hand: Dass die Politik die Tafeln tatsächlich eines Tages überflüssig macht.
Anke Assig ist da eher pessimistisch: "Dieses ideale Land gibt es nicht", sagt sie und dass die Tafeln sich deshalb weiter für jene einsetzen wollten, die von Armut betroffen sind. Und das ist ja auch nur die eine Baustelle: "Die Lebensmittelüberschüsse verschwinden nicht, nur weil wir die Tafeln dichtmachen."