Essen. . 85 Prozent der Leute, die die Piraten wählen würden, verbinden damit keine politischen Ziele, sondern wollen ihrem Unmut gegen alles Mögliche Luft machen, sagen die Parteienforscher. Wie funktioniert die geforderte öffentliche Meinungsbildung? Das diffuse Profil der neuen Partei bietet auch viel Platz für fragwürdige Tendenzen. Eine Analyse.
Thilo Sarrazin hat wohl kaum etwas mit der gerade so aufstrebenden Piratenpartei gemein – und doch spielt er eine große Rolle bei der Frage, welchen Einfluss die Politik der Piraten auf das Demokratieverständnis hat. Schließlich fällt der Name des umstrittenen Polarisierers („Deutschland schafft sich ab“) in den Online-Foren der Piraten besonders häufig.
Seine These über die vererbte Dummheit ist ein Renner, es finden sich aber auch Hetzereien. User schlagen sich Nächte um die Ohren, um eifrig mitzudiskutieren. Einigkeit herrscht durchaus – aber nur darüber, dass es keinerlei Beschränkungen bei der Meinungsfreiheit gibt.
Auch die Online-Debatte über das Piratenmitglied Bodo Thiesen, der den Holocaust anzweifelt, ist voll entbrannt. „BT ein Holocaust-Leugner? Meines Wissens nur Hinterfrager, aus welchen Gründen auch immer. (…) Kann man das verbieten? (…) Sollte nicht alles diskutierbar sein?“ (Schnatz am 17. April) „Es geht nur darum, dass er diese Ansicht äußern darf.“ (Dirk am 17. April).
85 Prozent wollen nur ihren Unmut loswerden
Für den Bonner Parteienforscher Gerd Langguth könnte es problematisch werden, dass die Piraten „jede Menge fragwürdige Gesellen“ anziehen, wie etwa ehemalige Neonazis, die die neue Partei „zur Resozialisierung“ missbrauchen könnten. 85 Prozent der Anhänger seien Protestwähler, denen es um die Möglichkeit gehe, ihren Unmut kund zu tun. „In gewisser Weise“, sagt der Experte, „sind die Piraten eine populistische Partei“.
„Anonym“ schreibt im Piratenforum am 18. April: „Was Sie hier ausbreiten, ist durchsetzt von typischen Stammtisch-Meinungen.“ Pierre Sanderre erwidert: „Stammtischmeinungen müssen nicht unbedingt falsch sein.“
In Frankreich gibt es keine Piraten. Dort wählen Protestwähler den rechtsextremen Front National unter Marine Le Pen. Rechtspopulistische Parteien feiern auch in den Niederlanden (Partei für die Freiheit) oder Finnland (Wahre Finnen) Erfolge, in Österreich ist die FPÖ etabliert. Auch in Deutschland, sagt Langguth, gebe es das Bedürfnis nach einer rechtspopulistischen Partei, aber eben auch ein in der Geschichte begründetes Tabu, und „das kommt nun den Piraten zugute“.
Die Welle im Internet
Dann ist da noch die Unbekümmertheit gegenüber dem Nationalsozialismus. Martin Delius tappte in diese Naivitätsfalle. Der Berliner Piraten-Fraktionschef verglich den Aufstieg der Piraten mit dem Aufstieg der NSDAP von 1928 bis 1933. Nun muss er in den Hintergrund treten. „Das passiert jemandem, der als junger Mensch in einer Jugendorganisation der etablierten Parteien ist, nicht“, so Langguth.
Naive Meinungsfreiheit gekoppelt mit unbedingter Transparenz – das birgt eben Gefahren.
Aus Angst, mit sogenannten Shitstorms, also Empörungswellen im Internet, fertiggemacht zu werden, geben sich führende Piraten bedeckt, wenn sie zu aktuellen Themen gefragt werden, etwa zum Umgang mit Afghanistan, der Euro-Krise oder den Spritpreisen. Zunächst muss die Basis abgefragt werden, wo sich die Diskussion schnell verselbstständigt.
Zum Betreuungsgeld etwa gibt es keine Position. Wohl aber eine empörte Erklärung der Piraten über Kristina Schröder, die vor ihrer Buchvorstellung das BKA anrief, weil sie sich von einem Twitter-Aufruf bedroht fühlte.
Die Basis will alles kontrollieren
Für die Piraten-Community eine willkommene Gelegenheit, über wirre, sexistische wie homophobe, Haltungen zu lamentieren. Das klingt dann beispielsweise so: „Kristina Schröder ist nicht gegen alle Neuerungen. Sie befürwortet etwa die Gleichberechtigung der Frau. Es kann aber für den Menschen keine unbegrenzte Freiheit geben. Z.B. muss man Homosexualität als Krankheit begreifen. (…) Homosexualität führt zu einer verstärkten Ausbreitung von Aids. Man soll Homosexuelle ähnlich behandeln wie Raucher.“ (Eso-Vergelter am 19. April)
Wie kann so Politik funktionieren? Der Piratenexperte Stephan Klecha vom Göttinger Institut für Demokratieforschung sieht durchaus die Gefahr, dass die Kontrolle durch die Basis demokratische Prozesse gefährdet. „Die Piraten werden gewählt, weil sie mit anderen Methoden Politik machen. Doch was passiert mit der Politik dann?“
„Jetzt reicht’s!“
Der Parteiführung ist völlig unklar, wie viel Toleranz, wie viel Meinungsfreiheit in den eigenen Reihen überhaupt gewährt werden kann. Marina Weisband, in der Funktion der politischen Geschäftsführerin die Frontfrau der Partei, ist über Twitter und Google+ ständig in Kontakt mit der Basis („Ich bin gerade in der Badewanne“). „Jetzt reicht’s“, schrieb sie jüngst in ihrem Blog. Auch die Basis müsse sich dazu bekennen, dass alle Menschen gleichwertig sind, „sonst versinken wir im Dreck und Müll“.
Doch sich zusammenzuraufen, gemeinsam für etwas einzutreten – das wird nicht klappen, befürchtet Politologe Klecha. Einigkeit herrsche nur, wenn es konkrete Aktionen gegen etwas gebe. Gegen die Urheberrechte etwa. Oder die Verfolgung von Produkt-Piraterie. Kurz: Gegen die Beschränkungen im Internet. Mehr ist nicht rauszuholen.
Vor dem heutigen Bundesparteitag der Piraten ist ein neuer Zwist ausgebrochen - diesmal geht es um die Regierungsfähigkeit. "Wenn keine andere Konstellation möglich ist und wir Gelegenheit erhalten, unsere Inhalte umzusetzen, sollten wir bereit sein, auch Regierungsverantwortung zu übernehmen", sagte Parteichef Sebastian Nerz mit Blick auf die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Er gab zugleich zu, dass sich die Partei noch an die Parlamentsarbeit gewöhnen müsse.
Dagegen plädierte die scheidende Geschäftsführerin Weisband dafür, dass ihre Partei erst einmal auf den Oppositionsbänken weitere Erfahrung sammeln solle. "Der Sprung von gar nicht im Parlament zum Regieren ist viel zu groß", warnte sie und fügte hinzu: "Auch wir lernen noch."
Mehr als 2500 Mitglieder der Piratenpartei kommen am Samstag zu ihrem Bundesparteitag in Neumünster zusammen. Am ersten Tag soll unter anderem der bislang siebenköpfige Bundesvorstand neu gewählt werden. Der amtierende Parteichef Nerz kandidiert erneut für den Vorsitz, es gibt neun Mitbewerber. Im Mittelpunkt des zweitägigen Treffens sollen angesichts des rasanten Wachstums der Partei auf inzwischen mehr als 25.000 Mitglieder organisatorische Fragen stehen.