Berlin. . Die Kanzlerin spricht im Interview mit der WAZ-Mediengruppe über neue Konkurrenten in der Parteienlandschaft, die Wirkung des umstrittenen Betreuungsgeldes und ihr Verhältnis zu NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft.

Der Raum ist klein, aber lichtdurchflutet. Das Fenster gibt den Blick frei auf den Berliner Hauptbahnhof. Ein runder Tisch, an der Wand ein Adenauer-Porträt, gemalt von Graham Sutherland. Wir sind im „kleinen Kabinettsaal“, sechste Etage im Kanzleramt, wo Angela Merkel sieben Chefredakteuren der WAZ-Gruppe Rede und Antwort steht; ein Termin, der übrigens früher feststand als die NRW-Wahl. Die Fotos macht Laurence Chaperon. Sie ist quasi eine vertrauensbildende Maßnahme. Auf wenige Fotografen lässt sich Merkel so ein wie auf Chaperon. Die Fotografin veranlasst erst einmal ein kleines Stühlerücken. Also dann: Ran an die Kanzlerin.

Frau Bundeskanzlerin, was stört Sie an den Piraten?

Angela Merkel: Warum müssen Sie gleich negativ formulieren?

Anders herum: Was gefällt Ihnen an den Piraten?

Merkel: In mancher Hinsicht können sie ein Ansporn für die anderen Parteien sein. Sie nutzen das Internet mit großer Konsequenz. Ich finde es zumindest interessant, wie sie fast ihre ganze politische Meinungsbildung im Internet organisieren. Für viele Menschen, nicht nur, aber vor allem für Jüngere, macht sie das attraktiv.

Auch die CDU ist im Netz sehr aktiv, auch wir halten zum Beispiel Regionalkonferenzen im Internet ab – aber etwas dazulernen kann man immer. Inhaltlich müssen natürlich Fragen des geistigen Eigentums intensiv diskutiert werden.

Was sagen Sie zu den Klagen der Revier-Oberbürgermeister? Die finden es ungerecht, dass sie Schulden machen müssen für den „Soli“, während im Osten goldene Bürgersteige gebaut werden.

Merkel: Der Solidarpakt II ist bis 2019 vereinbart und wird eingehalten. Diese Mittel werden vom Bund finanziert. Gleichzeitig weiß ich, dass es auch in anderen Regionen erhebliche strukturelle Umbrüche gibt. Das Ruhrgebiet gehört dazu. Die Bundesregierung hat deshalb beschlossen, die Kommunen zu entlasten, indem sie ihnen schrittweise die Kosten der Grundsicherung abnimmt, also der Unterstützung derjenigen, die im Alter keinen ausreichenden Rentenanspruch haben. Insgesamt wendet der Bund dafür Milliarden auf, gerade für Städte mit hoher Arbeitslosigkeit ist das eine erhebliche Entlastung.

„Betreuungsgeld muss im familienpolitischen Zusammenhang sehen“

NRW-CDU-Vize Laschet hält es in der Diskussion ums Betreuungsgeld für falsch, jährlich zwei Milliarden Euro neue Schulden aufzunehmen, um Sozialleistungen zu erfinden, die falsche Anreize setzten.

Merkel: Die Bundesregierung betreibt eine solide Finanzpolitik und steuert einen ohne Neuverschuldung ausgeglichenen Haushalt an. Dabei kommen wir gut voran. Das Betreuungsgeld muss im familienpolitischen Zusammenhang gesehen werden. 2008 hat die damalige große Koalition im Bund zum einen entschieden, vier Milliarden Euro für einen massiven Ausbau des Krippenangebots aufzuwenden und damit die Betreuung von Kindern unter drei Jahren zu unterstützen.

Obwohl der Bund dafür nicht zuständig ist, haben wir außerdem zugesagt, auch den Betrieb der Krippen nach 2013 dauerhaft mit zu finanzieren. Unabhängige Fachleute haben einen Bedarf an Betreuungsplätzen für etwa 40 Prozent der Kinder unter drei Jahren ermittelt. Zusammen mit den Ländern und Kommunen treiben wir diesen Ausbau so voran, dass dieser Bedarf wie zugesagt im August 2013 gedeckt ist.

2008 haben wir zum zweiten in der großen Koalition verabredet, den Eltern, die für ihre unter dreijährigen Kinder keinen staatlich geförderten Krippenplatz in Anspruch nehmen, ein Betreuungsgeld zu zahlen. Betreuungsgeld und Betreuungsplätze für Unter-Dreijährige bilden also eine Einheit, um Wahlfreiheit der Eltern zu ermöglichen.

Ihre Standfestigkeit in Ehren, gefährdet das Betreuungsgeld nicht den Modernisierungskurs der CDU in der Familienpolitik?

Merkel: Die CDU arbeitet daraufhin, dass wir unsere Ziele beim Ausbau der Betreuungsplätze für die Unter-Dreijährigen erreichen. Gleichzeitig ist es ein Gebot der Fairness, auch den zweiten Teil des seit 2008 bestehenden Konzepts einzuhalten, und das ist das Betreuungsgeld für Unter-Dreijährige einzuführen, weil auch die Eltern dieser Kinder unsere Unterstützung verdienen.

„Röttgen kann ein guter Ministerpräsident sein“

Das wäre dann nach der Wahl in NRW, suchen Sie schon einen neuen Umweltminister?

Merkel: Ich mache intensiv Wahlkampf für die CDU in Nordrhein-Westfalen und für Norbert Röttgen, weil ich überzeugt bin, dass er ein guter Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen sein kann.

Wie ist Ihr Verhältnis zu Hannelore Kraft? Gehen regierende Frauen anders miteinander um?

Merkel: Ich arbeite mit ihr wie mit jedem anderen Ministerpräsidenten der SPD bzw. der Grünen konstruktiv zusammen. Bei der Energiewende hat sie sich wie Rot-Grün insgesamt noch nicht zur Zustimmung der steuerlichen Förderung der Gebäudesanierung durchringen können. Alle Umweltverbände sind zum Beispiel dafür, genauso wie die Wirtschaftsverbände, weil das Arbeitsplätze schafft. Dieses Gesetz liegt auch im Interesse von Nordrhein-Westfalen. Die Bundesregierung wirbt weiter dafür.

Die Kanzlerin mit den Chefredakteuren der WAZ-Mediengruppe  in Berlin (v.l.): Ullrich Erzigkeit (Ostthüringische Zeitung), Armin Maus (Braunschweiger Zeitung), Rüdiger Oppers (NRZ), Ulrich Reitz (WAZ), Stefan Hans Kläsener (Westfalenpost), Thomas Kloß (Onlineportal DerWesten.de) und Malte Hinz (Westfälische Rundschau). Foto:Laurence Chaperon
Die Kanzlerin mit den Chefredakteuren der WAZ-Mediengruppe in Berlin (v.l.): Ullrich Erzigkeit (Ostthüringische Zeitung), Armin Maus (Braunschweiger Zeitung), Rüdiger Oppers (NRZ), Ulrich Reitz (WAZ), Stefan Hans Kläsener (Westfalenpost), Thomas Kloß (Onlineportal DerWesten.de) und Malte Hinz (Westfälische Rundschau). Foto:Laurence Chaperon © Laurence Chaperon

Ihnen gehen gerade die Partner in Europa verloren, in Holland, Frankreich. Geraten Sie in die Isolierung?

Merkel: In Frankreich stehen mit dem Präsidenten und seinem Herausforderer zunächst einmal zwei pro-europäische Politiker zur Stichwahl, deren Ausgang wir jetzt abwarten sollten. In den Niederlanden steht Mark Rutte, den ich als Kollegen schätze, einer Minderheitsregierung vor, bei denen man ja jederzeit mit Neuwahlen rechnen muss, wie wir aus Nordrhein-Westfalen

wissen. An den Grundprinzipien deutscher EU-Finanzpolitik ändert das nichts, und ich erfahre in Europa viel Unterstützung für den Kurs, solide Finanzen auf der einen Seite und Reformen und Anreize für ein nachhaltiges Wachstum auf der anderen Seite durchzusetzen.

Warum halten Sie noch zu Sarkozy?

Merkel: Wir gehören einer Parteienfamilie an. Außerdem haben wir in einer sehr schwierigen Phase der Schuldenkrise verlässlich und zum Wohle Europas zusammengearbeitet. Dessen ungeachtet werde ich als deutsche Kanzlerin mit jedem französischen Präsidenten gut zusammenarbeiten, was der Verantwortung unserer beiden Länder entspricht.

„Fiskalpakt ist nicht neu verhandelbar“

Auch wenn er Francois Hollande heißt und den Fiskalpakt neu aushandeln will?

Merkel: Der Fiskalpakt ist verhandelt, er wurde von 25 Regierungschefs unterzeichnet und ist bereits von Portugal und Griechenland ratifiziert. Parlamente überall in Europa stehen kurz davor, ihn zu verabschieden. In Irland findet dazu Ende Mai ein Referendum statt. Er ist nicht neu verhandelbar. Das Thema Wachstum, das manche jetzt anmahnen, ist darüber hinaus neben den soliden Finanzen längst die zweite Säule unserer Politik.

Die letzten beiden Europäischen Räte der Staats- und Regierungschefs haben sich mit sehr konkreten Maßnahmen zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung bereits befasst, der Juni-Rat wird dazu weitere Beschlüsse fassen.

Wie Hollande fordert die SPD mehr Wachstumsimpulse. Gehen Sie auf die Opposition zu?

Merkel: SPD und Grüne können ihre Vorschläge einbringen. Wir werden den Zeitplan und alle Detailfragen zum Fiskalpakt wie auch den ESM im Bundestag diskutieren.

Wie geht es mit der Energiewende voran?

Merkel: Die Energiewende ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie fordert alle politischen Ebenen. Als Umweltminister setzt sich Norbert Röttgen sehr engagiert für den Ausbau der erneuerbaren Energien ein, ebenso wie Philipp Rösler als Wirtschaftsminister für den Netzausbau. Die Planfeststellungsverfahren zum Beispiel obliegen den Ländern und alle – Bund, Länder, Kommunen – müssen sehr eng zusammenarbeiten, wenn die zügige Umsetzung gelingen soll.

Natürlich gibt es regionale Unterschiede: In Schleswig-Holstein liegt der Nutzen von neuen Windparks auf der Hand. Im Sauerland zum Beispiel steht man dazu erst am Anfang der Diskussion. Und Transitländer fragen sich, was sie davon haben, den Strom durchzuleiten, worin der Gewinn für sie selbst liegt.

„Wir werden die Energiewende zum Erfolg führen“

Für Evonik-Chef Engel kommt die Energiewende zu langsam voran. Er fordert, das Thema zur Chefsache zu machen. Wollen Sie das?

Merkel: Die Energiewende ist mir von Anfang an ein besonderes Anliegen gewesen. Mit den zuständigen Ministern berate ich regelmäßig. Für Mai habe ich zum dritten Gespräch mit den Ministerpräsidenten eingeladen, um die Fortschritte und Defizite mit ihnen zu besprechen. Jeder Minister in der Bundesregierung hat seine ressortspezifischen Zuständigkeiten, und ich habe eine besondere Verantwortung für das Ganze. Wir werden die Energiewende für unsere Bürger und unsere Wirtschaft zu einem Erfolg führen.

Sie sind zufrieden?

Merkel: Wir haben eine klare Vorstellung davon, wie es weiter gehen muss. Bis Jahresende wissen wir, welche zusätzlichen Netze wir brauchen und welcher Handlungsbedarf im Kraftwerksbereich besteht. Sicher ist: Ein Kraftwerk wie Datteln, beinahe fertiggestellt und bereit, ans Netz zu gehen, wird gebraucht. Nordrhein-Westfalen muss sich klar dazu bekennen.

Das Interview fasste Miguel Sanches zusammen