Potsdam. . Drei Jahrzehnte entwickelte sich die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland nach unten. Seit 2010 steigen sie wieder. Wie kann das sein? Experten haben schon ein paar Antworten.
Die Verkehrsmoral der Autofahrer, Radfahrer und Fußgänger lässt nach. Weniger als die Hälfte der Fußgänger beachtet strikt das Rotlicht an Ampeln. Auch vier von fünf Autofahrern haben in den letzten zwölf Monaten mindestens einen Rotlichtverstoß begangen. 13 Prozent der Kfz-Lenker telefonieren teilweise oder „häufig“ am Steuer. Drei Prozent schreiben sogar gelegentlich eine SMS.
Diese Daten der jüngsten Infratest-Umfrage schrecken Verkehrsexperten auf. „Die Situation auf den Straßen verschärft sich. Die Rücksichtslosigkeit nimmt zu“, sagt Frank Richter, Chef der Gewerkschaft der Polizei in NRW. Die neuen Zahlen des Kraftfahrtbundesamtes in Flensburg stützen seine Befürchtungen. Erstmals haben dort mehr als neun Millionen Verkehrssünder Punkte. Häufigster Eintragungsgrund ist zu hohes Tempo, es folgt Alkohol am Steuer.
Mit dem Rollator auf der Autobahn
Es gibt aber noch ganz andere Gefahren auf unseren Straßen, und sie wachsen. Karfreitag war es, um 4.30 Uhr morgens, da wurde der Autobahnpolizist Uwe Capitanio zum Schutzengel. Im Autobahnkreuz Bonn-Nordost entdeckte er auf der A 565 eine ältere Dame, die dort – auf der Überholspur und entgegen der Fahrtrichtung – mit ihrem Rollator unterwegs war. Capitanio riss die demente 73-Jährige zwischen die Leitplanken. Wenig später donnerte ein 40-Tonner vorbei.
Die gespenstische Szene, die sich Karfreitag 2012 bei Bonn abspielte, ist ein Hinweis auf die Verkehrsgefahren der Zukunft. 2030 werden nicht, wie heute, eine Million, sondern zwei Millionen Menschen mit Demenz in Deutschland leben. Sie werden nicht wissen, was sie gerade tun. Und auch die Zahl der Fahrer wird dann zugenommen haben, die vor Fahrtbeginn Medikamente nehmen und unbewusst „zugedröhnt“ am Lenker sitzen. Frank Richter, Bundesvize der Gewerkschaft der Polizei (GdP), verlangt deshalb schon heute, Arzneipackungen mit deutlichen Warnhinweisen zu bedrucken. Von außen. Nicht nur in der Packungsbeilage.
Anfang der Siebziger wurde jedes Jahr eine Kleinstadt ausgelöscht
Seine Organisation beschäftigt sich in diesen Tagen intensiv mit den großen Trends der Verkehrssicherheit. Ebenso tut das der ADAC. Denn die Experten stehen vor einem Rätsel. Drei Jahrzehnte entwickelte sich die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland nach unten. Von 20 000 im Jahr 1970, „als eine Kleinstadt ausgelöscht wurde“, wie der Berliner Verkehrsstaatssekretär Klaus-Dieter Scheuerle sagt, auf unter 4000 im Jahr 2010. Seither steigt sie wieder deutlich an. Der Greifswalder Unfallforscher Udo Schmucker führt das zwar auch auf besondere Witterungsbedingungen und die konjunkturelle Entwicklung zurück. Aber er sieht durchaus Schwachstellen – beispielsweise bei der Versorgung der Verletzten: Die Alarmzeiten, die Notarztwagen bis zur Unfallstelle brauchen, ziehen sich in die Länge.
Richter fürchtet mehr. „Das Klima auf den Straßen wird anders“, sagt er. Das gefahrene Tempo und die Aggressivität nähmen wieder zu, die Kontrolldichte der Polizei „gravierend“ ab. Manche Polizeidienststelle auch in Nordrhein-Westfalen sei nur zur Hälfte besetzt. Hier sei Abhilfe dringend.
Der ADAC hat die Landstraße als Problemzone ausgemacht
Auch der ADAC erforscht die überraschende Unfallentwicklung und glaubt, Bund und Ländern einiges sagen zu müssen: Gerade auf unfallträchtigen Landstraßen, wo es 2010 neun Prozent mehr Tote gab und die damit zum gefährlichsten Pflaster wurden, werde neuerdings die wichtige Fahrbahnmarkierung vernachlässigt. Es sei ein „gefährlicher Geiz“ am Werk: Die Hubschrauber-Rettung des Automobilclubs hat ihre Datenbanken ausgewertet und ermittelt, dass inzwischen Unfälle durch ein Abkommen von der Fahrbahn deutlich überwiegen. Fehlt der weiße Strich am Rand? „Autofahrern fehlt die Orientierung, moderne Spurhalte-Assistenten sind ohne Seitenlinien nutzlos.“
Den Vorwürfen an die Adresse des Staates schließt sich die Gewerkschaft der Polizei an – aber mit anderen Akzenten als der ADAC. Auf ihrem Verkehrsforum in Potsdam erneuerte die GdP ihre Forderung, schärfer gegen Trunkenheit am Steuer vorzugehen und über die Absenkung der 0,5-Promille-Grenze nachzudenken. Wäre, so fragt es Frank Richter, nicht 0,3 Promille als Obergrenze für viele ein ausreichendes Signal, sich grundsätzlich nur noch ohne Alkohol ans Steuer zu setzen?
Promillegrenze? Tempolimit? Berlin stellt sich taub
Berlin stellt sich taub. Das ist ein Punkt, den der Bundesverkehrsminister beispielsweise bei allen öffentlichen Erklärungen ebenso meidet wie das Verlangen, grundsätzlich ein Tempolimit bei 130 einzuführen. Das neue Verkehrssicherheitsprogramm des Bundes enthält keines dieser kritischen Elemente.
Minister Peter Ramsauer ist aber an anderer Stelle durchaus bereit, mehr für die Verkehrssicherheit zu tun. Die Ausgaben würden in diesem Jahr um 15 Prozent steigen, kündigte sein Staatssekretär in Potsdam an. Von zehn auf 11,5 Millionen Euro.