Berlin/Köln. Weil die Staatsanwaltschaft Beweismittel vermengt hat, wird ein Strafverfahren gegen den Initiator der umstrittenen Koranverteilungen eingestellt. Gegen ihn sollte wegen eines angeblichen Tötungsaufrufs verhandelt werden. Die Beweismittel waren jedoch aus einem anderen Verfahren. Die Kosten trägt nun der Staat.

Wegen der von ihm organisierten Koran-Verteilungen steht der islamistische Prediger Ibrahim Abou-Nagie im Fokus wie nie zuvor - nun werden Details zu einer folgenschweren Panne bekannt, die der Kölner Staatsanwaltschaft in einem Strafverfahren gegen ihn unterlaufen ist: Nach Informationen der Nachrichtenagentur dapd vermengte ein Bearbeiter der Justizbehörde Beweismittel aus unterschiedlichen Fällen.

Laut einem zur Aufarbeitung des Versehens verfassten Vermerk der Staatsanwaltschaft fand ein angeblicher Tötungsaufruf Abou-Nagies dadurch "fälschlicherweise Eingang in die für das vorliegende Verfahren (...) maßgebliche Bewertung".

Die für den 30. Januar geplante Verhandlung vor dem Kölner Amtsgericht gegen Abou-Nagie musste deswegen wenige Tage zuvor abgesagt werden. Mittlerweile wurde das Verfahren eingestellt. Die Kosten trägt die Staatskasse - und damit der Steuerzahler.

Juden und Christen prophezeit Abou-Nagie die Hölle

Über die Einstellung des Verfahrens hatte am Wochenende das Magazin "Focus" berichtet. Der Nachrichtenagentur dapd liegen nun Vermerke der Staatsanwaltschaft zur Aufarbeitung der Panne vor. Danach stützte sich der Vorwurf des öffentlichen Aufrufs zu einer Straftat auf einen Mitschnitt eines "Islam-Unterrichts", den Abou-Nagie vor etwa einem Dutzend Kindern gegeben hatte. Das Video wurde im Januar 2011 auf der Internetplattform Youtube verbreitet.

In dem Unterricht prophezeite Abou-Nagie, dass Juden und Christen "für ewig in die Hölle" kommen. Muslime, die behaupteten, dass auch Christen ins Paradies kommen könnten, bezeichnete Abou-Nagie als "kuffar" (Ungläubige). Das Video ist bis heute im Internet abrufbar.

Ein Auswerter der Kölner Polizei notierte die Textpassagen. In der Anklage fand sich jedoch zusätzlich die angeblich von Abou-Nagie getätigte Aussage, "dass derjenige, der nicht bete und dazu dreimal aufgefordert worden sei, getötet werden müsse und jeder gläubige Muslim das Recht dazu habe." Von den Ausführungen der Staatsanwaltschaft überzeugt, terminierte das Kölner Amtsgericht die Eröffnung der Hauptverhandlung für den 30. Januar dieses Jahres.

Sensibilisiert wegen diverser Medienanfragen zu dem Prozess nahm der Leiter der Abteilung für politische Delikte, der Kölner Oberstaatsanwalt Ulf Willuhn, das Video persönlich in Augenschein. "Zu meinem Erstaunen", so schrieb er in einem Vermerk vom 16. Januar, enthielt die Video-CD, auf der die Ansprache gespeichert war, "keine strafrechtliche Relevanz".

Staatsanwaltschaft vermutete Manipulation

Willuhn war mit der Erhebung der Anklage nicht befasst. Die Abteilung für politische Delikte leitet er erst seit Anfang des Jahres. Offenbar überzeugt von der Sorgfalt seiner Mitarbeiter, glaubte er zunächst an Manipulation. Es bestehe "der Anfangsverdacht der Urkundenunterdrückung und der Strafvereitelung", heißt es in dem Januar-Vermerk.

Techniker des Bundeskriminalamtes stellten jedoch fest: Von einer inhaltlichen Veränderung der Datei könne "keine Rede sein". Des Rätsels vermutliche Lösung fand Willuhn in einem anderen Video. Abou-Nagie zitierte darin einen angeblichen Islam-Gelehrten: "Jemand, der nicht betet: Man muss ihn ermahnen. Und nur drei Tage Zeit geben. Wenn er immer noch nicht betet - er muss getötet werden."

Weil die Videos zwar aus unterschiedlichen Verfahren stammen, sich inhaltlich aber ähneln, heißt es in einem Vermerk der Staatsanwaltschaft vom 27. Februar: "Es erscheint insoweit jedenfalls nicht völlig abwegig, dass es zu einer 'Überblendung' der in Augenschein genommenen Videomitschnitte (...) gekommen ist." Im Klartext: Der zuständige Staatsanwalt könnte den Überblick verloren haben. Restlos geklärt ist dies nach den Vermerken nicht.

Kein öffentlicher Aufruf

Das Video, in dem Abou-Nagie tatsächlich sagte: "Wenn er immer noch nicht betet - er muss getötet werden", ist für eine Anklage untauglich. Denn ob Abou-Nagie die Ansprache öffentlich hielt, ist nicht erkennbar. Nur dann aber könnte es eine Straftat sein. Auch ist nicht ersichtlich, ob er sich die Aussage zu eigen machte.

Für den Islamwissenschaftler und Terrorismusexperten Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik gelten Salafisten wie Abou-Nagie "als ideologische Unterstützer der Dschihadisten". Sie agierten in einer Grauzone, in der sie strafbare Stellungnahmen vermieden. Ihre Anhänger wüssten die Botschaften allerdings zu deuten. "Dies macht die Wertung ihrer Aktivitäten so schwierig und verlangt von den Strafverfolgungsbehörden Sachkenntnis und große Sorgfalt. An beidem scheint es in dem vorliegenden Fall gemangelt zu haben", sagt Steinberg. Abou-Nagie und seine Anhänger würden so zu neuen Aktivitäten ermuntert. (dapd)