Münster. . Das Spitzenquartett der Piraten zur NRW-Landtagswahl ist komplett. Neben dem Spitzenkandidaten Joachim Paul gehören der Neusser Lukas Lamla, der Düsseldorfer Marc Olejak und Michele Marsching aus Weeze zum Führungsteam.
Mühsam ist das Piratenleben. Wenn alle alles mitbestimmen dürfen und wollen, dauern Entscheidungen, die in anderen Parteien die Hinterzimmer-Regie vorgibt, nicht nur quälend lange, sie können auch anders ausfallen als erwartet: Beim Landesparteitag der in Münster landete am Wochenende überraschend der 54-jährige Biophysiker und Medienpädagoge Joachim Paul aus Neuss auf Platz 1 der Landesliste.
Dabei haben die 400 Parteimitglieder – Delegierte gibt es bei den Basisdemokraten nicht – in der Halle Münsterland in einer zweistündigen Verfahrensdebatte zuvor aus Abscheu vor Personenkult beschlossen, keinen Spitzenkandidaten aufzustellen, sondern ein vierköpfiges Team. Aber dann erreicht Paul, der mit Sakko und grauem Vollbart nicht dem Freibeuter-Klischee entspricht, der rhetorisch überzeugt und sich bisher in Bildungsfragen angiert hat, im ersten Wahlgang als Einziger das notwendige Quorum. Und dann ist der erste Parteitagstag nach neun langen Stunden vorbei. Der Landesvorsitzende Michele Marsching (33) ist zunächst gescheitert, wahrscheinlich wegen eines Interviews, in dem er seine Zustimmung zur umstrittenen Diätenerhöhung angekündigt hatte, schafft es am Sonntag aber dann doch noch auf Listenplatz 4, also ins Top-Team – neben den 29-jährigen Lukas Lamla aus Neuss und Marc Olejak aus Düsseldorf.
Drei Minuten für jeden
56 Kandidaten haben sich allein für die ersten vier Listenplätze beworben. Drei Minuten lang darf sich jeder vorstellen. Von unbeholfener Schüchternheit bis zum rampensauhaften Politprofessionalismus ist alles dabei. Altgediente Programmarbeiter, die seit 2006 aktiv sind, und völlige Neulinge, die von der großen Chance auf ein Landtagsmandat angelockt werden. Trittbrettfahrer? Von 140 Mitgliedsanträgen allein am vergangen Mittwoch berichtet Parteisprecher Achim Müller. Die Gesamtzahl in NRW nähert sich rasant der 4000er-Grenze.
Und wie der widerwillige Spitzenkandidat („Für mich zählt nur das Wir, das Netzwerk“), den sein Sohn mit zu den Piraten gebracht hat sind viele der in Münster versammelten Mitglieder nicht so, wie das Vorurteil es will. Gut, Frauen sind etwas unterrepräsentiert, aber das ist in anderen Parteien nicht anders. Viele sind jung, aber vertreten sind alle Generationen. Zwar haben tatsächlich alle Laptop, Notebook oder iPad vor sich liegen und trinken vorzugsweise die koffeinhaltige Limo Club Mate, aber schräge Frisuren, blöde Bärte und seltsame Kappen sind die Ausnahme.
Ungewöhnliche Reihenfolge
Am 14./15. April veranstalten die Piraten ihren Programmparteitag, die Listen-Kandidaten wurden jetzt schon aufgestellt. Das liegt daran, dass nicht im Landtag vertretene Parteien noch Unterstützer-Unterschriften einsammeln müssen. 120 000 Euro will die Partei für den Wahlkampf ausgeben, vier Mal so viel wie 2010, viel weniger als die Konkurrenz. Umfragen versprechen am 13. Mai fünf bis sieben Prozent, das wären 10 bis 15 Abgeordnete. Oder mehr? Die Piraten sehen sich unterbewertet, weil die Telefonumfragen im Festnetz erfolgen. Und da haben viele Piraten gar keinen Anschluss.
Und wenn ein Kandidat Kritik erntet, weil er sich nicht im Netz präsentiert hat, sondern „totes Holz“ (=Papier) verteilt, wenn ein Jung-Aktivist von der Bühne gegen die (geistiges Eigentum verteidigende) „Content-Mafia“ wettert, ist das mehr historische Folklore. Die Piraten sind kein Club von Internet-Nerds mehr, sie wollen keine Spaß- oder Protestpartei sein, sondern gestalten. Deshalb erweitern sie ihr Themenspektrum über Bildung und Umwelt hinaus, kümmern sich auch um Verkehrs-, Innen- und Finanzpolitik. Das ist eine Entwicklung wie einst bei den Grünen, denen sie in Berlin die meisten Wähler abspenstig machten. Nur geht das bei ihnen sehr viel schneller.
Außer beim Aufstellen der Liste. Nach dem Vorstellungsmarathon am Samstag melden sich am Sonntag 107 Kandidaten für die (einigermaßen aussichtsreichen) Listenplätze 2 bis 20. Danach kommen die Plätze 21 bis 40. Zur Sicherheit. Das alles nervt durchaus. Aber gleichzeitig sind Piraten stolz darauf, anders zu sein: „Mitmachdemokratie hat ihren Preis“, sagt Müller.