Münster. An Tag zwei ihres Landesparteitags setzen die Piraten in Münster ihre Kandidatenkür fort. Zuvor hatten sie den Neusser Joachim Paul auf Listenplatz 1 gesetzt - nicht Landeschef Michele Marsching. Der geht davon aus, dass das auch an seinen Äußerungen zur Diätenerhöhung lag.

"Piraten sind nur schwer berechenbar", sagt Pressesprecher Achim Müller am Samstagnachmittag, als der Spitzenkandidat eigentlich schon gewählt sein sollte. Dass sie so unberechenbar sein würden, hätte auch Müller vor diesem Landesparteitag der Piraten in Münster nicht geahnt. Aus dem Spitzenkandidaten wurde ein Spitzenquartett. Aus 37 Bewerbern für die Spitzenkandidatur wurden 55 Bewerber für die Listenplätze Eins bis Vier.

Nicht Parteichef Michele Marsching führt die Partei von Listenplatz Eins in den Wahlkampf für die Landtagswahl am 13. Mai, sondern ein für die breite Öffentlichkeit bis dahin unbekannter Direktkandidat aus Neuss. Der Name des 54-jährigen Medienpädagogen: Joachim Paul.

Nachdem das Ergebnis des Abstimmungsmarathons bekannt ist, wirkt Marsching müde und abgeschlagen. "Natürlich habe ich gehofft, Spitzenkandidat zu werden", sagt Marsching, während die Journalisten im Presseraum den Sieger des ersten Wahlgangs interviewen. "Mir fehlten zehn Stimmen für die notwendigen 50 Prozent", sagt er.

"Die Diätenerhöhung hat mich viele Stimmen gekostet." Der 33-Jährige spielt auf ein Interview mit der Nachrichtenagentur dapd an, worin er vor dem Landesparteitag gesagt hatte: "Da die Diätenerhöhung im Juli planmäßig ist, gehe ich davon aus, dass wir größtenteils zustimmen werden."

"Das wird die Wahl maßgeblich beeinflussen"

Im Internet brach in den sozialen Netzwerken ein sogenannter "Shitstorm" über ihn herein. Bei Twitter wurde er angegriffen, er sei "geldgeil". Die politische Geschäftsführerin der Bundespartei der Piraten, Marina Weisband, erklärt das Problem auf dem Landesparteitag so: "Jeder Pirat musste sich dafür verantworten, was Michele Marsching gesagt hat."

Sie halte die geplante Erhöhung der Diäten im Landtag zum 1. Juli - wie auch viele andere Piraten - für unnötig. Dass Marsching eine andere Einschätzung habe, sei seine Privatmeinung. Bereits am Samstagnachmittag prognostiziert sie: "Ich glaube, das wird die Wahl maßgeblich beeinflussen."

Marsching, der sich am Nachmittag drei Minuten lang als einer von 55 Bewerbern für das Spitzenquartett vorstellt, geht nicht wörtlich auf die Diätenerhöhung ein, sagt aber, dass 99 von 100 Interviews gut verlaufen seien. In der Medienarbeit sieht der selbstständige Software-Entwickler, der einst Journalist werden wollte, einen seiner Schwerpunkte. Nach der Bewerbungsrede sehen die 398 Piraten offenbar keinen Bedarf, ihren Chef weiter zu "grillen", wie die Partei die anschließende Befragung im Plenum nennt.

Marsching nimmt die Aussage zur Diätenerhöhung zurück

"Das Kandidatengrillen haben wir im Piraten-Wiki bereits vorgezogen", erklärt Sprecher Müller. Auf dem Online-Auftritt der NRW-Piraten seien viele Fragen schon vorab beantwortet worden. Auch bei der sensiblen Problematik der Abgeordnetenbezüge wurde das so gehandhabt. "Nach diesem Interview wurde der Punkt Diätenerhöhung hinzugefügt", sagt Marsching. Der Vater in Elternzeit wirbt dort für seine Position und bittet, auszurechnen, was für einen Landtagsabgeordneten "nach Altersversorgung, Steuern, Wahlkreisbüromiete und Angestelltengehältern auf 50 bis 60 Wochenstunden noch übrig bleibt".

Nachdem er feststellt, dass die meisten online gegrillten Kandidaten eine Diätenerhöhung im Juli für das falsche Signal halten, stellt er fest, dass die Piraten eine Diätenerhöhung entgegen seiner vorherigen Annahme ablehnen. "Ich nehme diese Aussage zurück", sagt er und macht deutlich: "Ich bin mit dieser Meinung allein auf weiter Flur."

Dennoch schaffte Marsching noch den Sprung in das Führungsquartett der Partei: Im zweiten Wahlgang wurden neben dem Spitzenkandidaten Joachim Paul auch der Neusser Lukas Lamla, der Düsseldorfer Marc Olejak und Marsching in die Piratenspitze delegiert. Lamla erhielt 78 Prozent, Olejak 76 Prozent und Marsching 75 Prozent der 398 Stimmen.

Für den Abend ist eine Party zur Landtagswahl im Saarland geplant. Joachim Paul, der neue Mann auf Listenplatz Eins, ist zuversichtlich: "Bis 18 Uhr sind wir hier durch." Es bleibt abzuwarten, wie berechenbar die Piraten unter seiner Führung sein werden. (dapd)