Essen. . In den diversen Bundesländern wird heftig über Schulreformen gestritten - eine Veränderung jagt die nächste, Eltern und Schüler fühlen sich vielfach als Versuchskaninchen. Bertelsmann-Experte Jörg Dräger erklärt im WAZ-Interview, warum die Schulstruktur gar nicht so entscheidend ist.

Wer in der Schule nicht mitkommt, bleibt sitzen oder muss gar die Schule verlassen. Den Aufstieg in eine höhere Schulform schaffen hingegen die wenigsten. Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung für den Bereich Bildung, erklärt, wie durch individuelle Förderung die Abwärtsspirale aufgehalten werden könne und warum die Schulstruktur dabei kaum eine Rolle spiele. Christopher Onkelbach und Birgitta Stauber-Klein sprachen mit ihm.

In Nordrhein-Westfalen kann man nicht mehr viel mit dem Hauptschulabschluss anfangen.

Jörg Dräger: Anders als in Bayern gehen in NRW nur noch wenige Schüler auf die Hauptschule. In Betrieben, die eine Lehrstelle zu vergeben haben, wird daher wenigstens der Realschulabschluss erwartet. Das wiederum macht die Hauptschule noch unattraktiver – eine Negativspirale.

Was ist die Konsequenz daraus für die Schulstruktur?

Dräger: Die Zukunft ist zweigliedrig. Das Gymnasium mit seiner langen Tradition wird nicht verschwinden. Wir werden zu einem System kommen, in dem wir neben dem Gymnasium noch eine weitere Schulform haben, die alle Abschlüsse anbietet. Abgesehen davon halte ich die Debatte um die Schulstruktur für völlig überbewertet.

Wie das? Diese Debatte hat doch schließlich die Schulpolitik der vergangenen Jahrzehnte diktiert.

Dräger: Ja, leider. Dabei sind der Unterricht und die Lehrer viel wichtiger als die Schulform. Funktioniert die individuelle Förderung, dann spielt die Schulform kaum eine Rolle. Denn dann kann jeder aus seinen Möglichkeiten das Beste machen.

Wie kann das gehen?

Dräger: Mit unterschiedlichen Aufgaben für unterschiedliche Kinder. Wenn Schüler selbst lernen und nicht warten, bis ihnen Wissen vermittelt wird, dann können die Hochbegabten und die schwächeren Kinder gleichermaßen gefördert werden. Bisher dreht sich im Schulbetrieb vieles um die Durchschnittsschüler.

Im Schulministerium wird man Ihnen sagen: Ja, das stimmt alles, aber uns fehlen die Mittel.

Dräger: Individuelle Förderung ist gar nicht teurer. Es braucht zum Beispiel keine kleineren Klassen. Die kosten wahnsinnig viel und haben kaum positive Effekte. Wenn Lehrer frontal unterrichten, erreichen sie die Kinder nicht, die sich langweilen oder überfordert sind. Egal ob 20 oder 30 Kinder in der Klasse sitzen.

Wie weit sind wir noch von Ihren Vorstellungen entfernt?

Dräger: Wir haben bereits ein paar hundert Schulen, die hervorragend arbeiten. Bestes Beispiel ist die Grundschule Kleine Kielstraße in Dortmund-Nord. Dort stammen viele Kinder aus einem Hartz-IV-Haushalt, die meisten haben einen Migrationshintergrund. Der Großteil der Kinder schafft dennoch den Sprung auf das Gymnasium und hat dort auch Erfolg. Dabei hat die Schule auch nicht mehr Geld zur Verfügung als andere Grundschulen.

Wie realistisch ist die flächendeckende Umsetzung solcher Konzepte? Schließlich kostet die nötige Fortbildung auch eine Menge.

Dräger: Es gibt ja bereits viele Fortbildungen. Nur ist es heute so: Der eine Lehrer lernt Französisch, der andere Stressbewältigung und der dritte individuelle Fortbildung. So bekommen wir eine ganze Schule aber nicht bewegt.

Sondern?

Dräger: Die Bedingung muss sein: Das gesamte Kollegium geht in die Fortbildung. Denn es bringt überhaupt nichts, wenn eine Klasse ein Jahr lang individuell nach Wochenplänen lernt und danach zum klassischen Frontalunterricht zurückkehrt. Das kann nicht funktionieren.

Wie weit ist Nordrhein-Westfalen?

Dräger: Der Start ist gemacht. Pilotregionen für Fortbildung sind bereits ausgewählt. Bis Ostern werden 50 bis 60 Schulen benannt, deren Lehrer sich komplett fortbilden lassen.