Berlin. Die FDP hat die Große Koalition mit ihrer Unterstützung für Joachim Gauck als Bundespräsident in eine schwere Krise gestürzt. Kanzlerin Merkel und die CDU müssen jetzt den Spott der Opposition über sich ergehen lassen. Die Wahl von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten ist für den 18. März vorgesehen.

Die deutsche Politik ist nicht reich an emotionalen Momenten, sondern gilt als eher nüchtern. Aber als Joachim Gauck am Sonntag abend im Kanzleramt neben Angela Merkel Platz nahm, saß beiden sichtlich ein Kloß im Hals. Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler hatte schon kurz zuvor Tränen in den Augen gehabt, als er zum Abendessen der Parteivorsitzenden von CDU, CSU, FDP, SPD und Grünen gestoßen war. Denn der 72-jährige Joachim Gauck steht mit der zweiten - und diesmal parteiübergreifenden - Nominierung für das Bundespräsidentenamt vor dem Höhepunkt seines Lebens.

Doch auch die CDU-Chefin war bewegt, allerdings weniger, weil sie die Persönlichkeit Joachim Gaucks so hoch schätzt. In Wirklichkeit hat Merkel gerade eine ihrer bittersten politischen Niederlagen der letzten Jahre erlitten. Das ließ sich schon an den strahlenden Gesichtern von SPD-Chef Sigmar Gabriel sowie der Grünen-Parteivorsitzenden Claudia Roth und Cem Özdemir in der gemeinsamen Pressekonferenz ablesen. "Die Überschrift könnte lauten: Ende gut, alles gut", stichelte Gabriel zufrieden und erinnert wie Roth daran, dass nun endlich der "Fehler" der Kanzlerin korrigiert werde, die bei der letzten Wahl eines Bundespräsidenten 2010 noch Niedersachsens Ministerpräsidenten Christian Wulff gegen Gauck durchgesetzt hatte.

Merkel hatte in Causa Gauck keinen Spielraum

Am Sonntag wurde klar, wie begrenzt der Spielraum der "mächtigsten Frau der Welt" bei der Präsidenten-Suche in Wahrheit war. Denn obwohl die Union lieber den früheren Umweltminister Klaus Töpfer oder den früheren Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber, nominiert hätte, setzte die FDP ihre Präferenz durch. In einer Schaltkonferenz legte sich die liberale Führungsspitze ganz auf Gauck fest - wohl wissend, dass dies für den Koalitionspartner eine Zumutung sein würde. "Aber die FDP wollte auch einmal zu den Gewinnern gehören", spottete man in der Opposition umgehend.

Genüsslich wird bei SPD und Grünen darauf verwiesen, dass sich die Union trotz ihrer derzeitigen Umfragestärke nicht einmal "gegen eine Drei-Prozent-Partei" habe durchsetzen können. Tatsächlich hatte Kanzlerin Angela Merkel angesichts der harten Haltung der FDP plötzlich nur noch eine Wahl: Entweder sie gibt nach und erleidet mit der gemeinsamen Nominierung des 2010 noch abgelehnten Gaucks selbst einen Gesichtsverlust. Oder aber sie einigt sich mit der Opposition auf einen Kandidaten wie Töpfer - um den Preis, dass die schwarz-gelbe Koalition auf Bundesebene platzen und ihre Kanzlerschaft gefährdet ist.

Gauck-Wahl trifft Merkels Übermacht

So positiv sich Merkel am Sonntagabend öffentlich auch zu Gauck äußerte: Die Nominierung trifft die zuletzt so übermächtige wirkende Kanzlerin an zwei sehr empfindlichen Stellen. Zum einen galt gerade die verschwiegene Personalpolitik lange als Ausdruck ihrer politischen Macht und Expertise - spätestens seit sie noch als Oppositionsführerin gegen den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder und Frankreichs Präsidenten Jacques Chirac den Portugiesen Jose Manuel Barroso als neuen EU-Kommissionspräsidenten durchsetzte. Jetzt aber offenbarte die angeschlagene FDP, dass sie das Heft des Handelns nicht in der Hand hatte.

Zudem schmälert die Wahl des populären ostdeutschen Protestanten Gauck ein wenig den Glanz ihrer eigenen Vita und ihr politisches Alleinstellungsmerkmal. Denn der künftige höchste Mann im deutschen Staat wuchs wie Merkel nicht nur im Kommunismus auf, sondern war anders als sie damals sogar aktiv im Bürgerwiderstand gewesen.

Der Ton in der Schwarz-Gelben Koalition dürfte ruppig werden 

"Es passt schon", wiegelte CSU-Chef Horst Seehofer zwar nach der gemeinsamen Pressekonferenz ab. Viel wichtiger als solche Überlegungen sei doch, dass mit der parteiübergreifenden Nominierung ein Signal an die Bürger und das Ausland gesendet habe.

Aber die politische Debatte dürfte dennoch nicht beendet sein. Denn nach einer Entscheidung ist in der Politik immer vor der nächsten. Und bei denen könnte die FDP in der schwarz-gelben Koalition auf einen ruppigen Ton treffen. Ein CDU-Politiker, der angesichts der durchaus aufgeheizten Stimmung in der Union anonym bleiben wollte, vermutet sogar eine möglicherweise paradoxe Wirkung der Nominierung Gaucks: So hat die angeschlagene FDP zwar erfolgreich alle Kandidaten abgeschossen, die den Anschein künftiger schwarz-grüner oder schwarz-roter Koalitionen hätten erwecken können.

Scharfe Kritik aus CDU-Kreisen an FDP-Vorgehen

Doch die de-facto-Hilfestellung für die Opposition könnte dazu führen, dass die Liberalen am Sonntag eine der letzten vehementen Verfechterinnen schwarz-gelber Bündnisses emotional verloren haben - die Kanzlerin und CDU-Chefin. Am Ende der Pressekonferenz jedenfalls kümmerte sich Merkel intensiv um Gauck und SPD-Chef Gabriel. FDP-Chef Philipp Rösler würdigte sie dagegen mit keinem Blick.

CDU-Politiker Wolfgang Bosbach warnte die FDP am Montag vor den Folgen. "Man sieht sich im Leben immer zweimal", sagte der Innenpolitiker am Montag im Fernsehsender N24. Die Liberalen dürften sich zwar als eigenständige politische Kraft profilieren und von der gemeinsamen Linie abweichen. "Dann darf die Union aber bei anderer Gelegenheit auch mal eine eigenständige politische Sach- oder Personalentscheidung treffen", sagte der Bundestagsabgeordnete. Er glaube allerdings nicht, dass die Koalition dauerhaft beschädigt sei, auch wenn das Verhältnis eingetrübt sei, sagte Bosbach.

Aus der CDU kommt massive Kritik am Vorgehen des Koalitionspartners FDP bei den Verhandlungen über den neuen Bundespräsidenten. Der stellvertretende Unions-Fraktionsvorsitzende im Bundestag Michael Kretschmer sprach in der "Leipziger Volkszeitung" von einem "gewaltigen Vertrauensbruch". Das Verhalten der FDP bei der Bestimmung des früheren DDR-Bürgerrechtlers Joachim Gauck zum Nachfolger des zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff werde schwere Folgen für die weitere Zusammenarbeit in der schwarz-gelben Koalition haben, wurde Kretschmer zitiert. "Das Verhalten ist symptomatisch für den Zustand der FDP", sagte er. "Unter Hans-Dietrich Genscher oder Klaus Kinkel wäre ein solches Verhalten undenkbar gewesen."

Grünen-Chef Özdemir sieht Schwarz-Gelb vor dem Ende 

Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir sieht im Koalitionszwist über die Nominierung von Joachim Gauck für das Amt des Bundespräsidenten "möglicherweise das Ende von Schwarz-Gelb". Özdemir sagte am Montag im Fernsehsender n-tv: "Nachdem erst die FDP gekippt ist, ist ganz zum Schluss auch noch die Merkel, also die Bundeskanzlerin, gekippt. Ich glaube, das gab es noch nicht, das muss man erst noch setzenlassen."

Es sei natürlich auch um koalitionsinterne Machtkämpfe gegangen, sagte Özdemir. Die FDP habe sich von ihrem Image als Umfaller befreien wollen. In der Koalition sei ein Kampf ausgetragen worden. "Der Sieger ist Herr Gauck", sagte Özdemir. "Verloren hat sicherlich Frau Merkel, verloren hat diese Koalition."

Schwesig bezeichnet Joachim Gauck als "Bundespräsident der Herzen"

Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Manuela Schwesig hat der FDP Parteitaktik bei der Suche nach einem neuen Bundespräsidenten vorgeworfen. Die Liberalen hätten nicht aus Überzeugung gehandelt, sagte Schwesig am Montag dem Hörfunksender NDR Info. Der angeschlagenen Partei sei es vielmehr darum gegangen, sich wiederzubeleben. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat sich nach Ansicht von Schwesig von der FDP erpressen lassen. Den Konsenskandidaten von Union, FDP, SPD und Grünen, Joachim Gauck, bezeichnete die Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern als "Bundespräsidenten der Herzen", der nun zwischen Politik und Bürgern Brücken bauen könne.

Der frühere Ministerpräsident von Thüringen, Bernhard Vogel, hat die FDP für ihr Vorgehen bei der Präsidentensuche kritisiert. Das Verhalten der Liberalen sei "nur schwer zu verstehen", sagte Vogel am Montag im Deutschlandradio Kultur. Die FDP habe damit ihre Koalitionsverpflichtungen verletzt. Das werde "natürlich noch Diskussionen auslösen", sagte Vogel voraus.

CDU-Generalsekretär Gröhe will die Wogen glätten

Derweil versuchen einige Unions-Politiker am Montagmorgen die Wogen in der schwarz-gelben Koalition zu glätten. Nach der Nominierung Joachim Gaucks für das Amt des Bundespräsidenten hat CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe den Zusammenhalt der Regierungskoalition hervorgehoben. "Wir haben als Koalition gemeinsam einen Auftrag, den erfüllen wir verlässlich", sagte Gröhe am Montag im ZDF-"Morgenmagazin". Mit Blick auf die Beratungen der Fraktionen vom Sonntagabend sagte Gröhe, "dass solche Gespräche mitunter nicht leicht verlaufen, ist das eine", es sei jedoch niemandem damit gedient, dies öffentlich nachzuzeichnen. Die Regierung stehe zu ihrem gemeinsamen Auftrag, sagte Gröhe.

FDP-Generalsekretär Patrick Döring hat den plötzlichen Schwenk seiner Partei zugunsten des Präsidentschaftskandidaten Joachim Gauck verteidigt. "Es ist ein ganz normaler Prozess, dass (...) man auch als Partner sagen muss, welche der Persönlichkeiten der FDP am nächsten steht", sagte Döring am Montag im Radiosender HR-Info. Die Liberalen seien zu dem Ergebnis gekommen, "dass das Joachim Gauck ist".

Den Streit mit dem Koalitionspartner, der Union, spielte der FDP-Politiker herunter: "So wie wir in anderen Situationen manchmal überzeugt werden konnten, konnten wir in diesem Fall deutlich machen, dass Joachim Gauck mit seinem Lebensweg und seiner Geschichte ein guter Bundespräsident sein wird." Union und FDP hatten sich am Sonntagabend nach zum Teil schwierigen Verhandlungen auf den ostdeutschen Theologen und ersten Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten geeinigt.

FDP wertet Nominierung Gaucks als Erfolg für die Liberalen 

Die bayerische FDP-Vorsitzende, Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, wertet die Nominierung Joachim Gaucks für das Amt des Bundespräsidenten als Erfolg für die Liberalen. "Die FDP hat dazu beigetragen, dass eine von Koalition und Opposition respektierte Persönlichkeit als gemeinsamer Kandidat aus den Gesprächen hervorgegangen ist", sagte Leutheusser-Schnarrenberger am Montag. Gauck stehe als herausragende Persönlichkeit über den Parteien und werde als Bundespräsident größtes Vertrauen genießen.

Mit Joachim Gauck hätten sich die Liberalen für einen Kandidaten entschieden, der wie kein anderer für Freiheit und Verantwortung stehe. "Diese Werte sind nicht nur der Grundstein liberaler Politik, sondern bilden auch das Fundament, auf dem unsere Republik und unsere Gesellschaft gegründet sind", sagte die Ministerin.

Bundesversammlung mit Wahl von Gauck voraussichtlich am 18. März

Voraussichtlich am 18. März wird die Bundesversammlung zusammenkommen, um einen neuen Bundespräsidenten zu wählen. Dies bestätigte eine Sprecherin von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) am Montag in Berlin. Wann Lammert die Bundesversammlung offiziell einberufen werde, sei noch nicht klar. Am Dienstag solle es noch einmal ein Treffen geben, um organisatorische Fragen zu klären.

Nach dem Rücktritt des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff muss die Bundesversammlung, die aus 1.240 Wahlleuten besteht, ein neues Staatsoberhaupt wählen. Nachdem sich ein breites Bündnis aus CDU, CSU, FDP, SPD und Grünen für den ehemaligen DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck ausgesprochen hatte, gilt dessen Wahl als so gut wie sicher.