Berlin. . Das ganze Wochenende laufen in Berlin die Drähte heiß. Sitzungen der Koalitionsspitzen wechseln sich ab, dann telefonische Beratungen, die Situation ist dramatisch. Protokoll einer verzweifelten Kandidatenkür.
Es gibt einen Bewerber für das Bundespräsidentenamt: Joachim Gauck. Er kandidierte schon 2010 auf Vorschlag von Rot-Grün. Und damals wie heute war er ein Angebot an alle, auch an FDP und Union. Aber der ostdeutsche Theologe ist nicht seines Glückes Schmied – und weiß das auch. Die Kanzlerin mag nicht, bis gestern Abend lehnte sie eine Nominierung von Gauck ab und nahm dafür sogar ein ernstes Zerwürfnis in der Koalition in Kauf.
Berlin, Kanzleramt, früher Nachmittag. Zum dritten Mal seit Freitagabend sind die Koalitionsspitzen zusammengekommen, es geht wieder nicht voran. Nach zwei Stunden bittet Philipp Rösler um Auszeit. Der FDP-Chef will sich telefonisch mit seinem Präsidium beraten. Alle sind zugeschaltet, nur Außenminister Guido Westerwelle fehlt, wohl wegen der Zeitverschiebung. Er ist in Südamerika.
Der FDP-Chef berichtet der Runde vom Verlauf der Gespräche über die Nachfolge von Christian Wulff. Die Situation ist dramatisch. Rösler will nun doch mit SPD und Grünen Gauck wählen, gegen Merkels Wunsch. Ein Unding unter Koalitionspartnern, eine Provokation. Rösler weiß das. Deshalb die telefonische „Schalte“, er will sich rückversichern. Die Führung folgt ihm einstimmig. Sie wollen Gauck. Viele hielten ihn schon 2010 für den besseren Mann. Einige Liberale haben ihn damals auch gewählt, als er Wulff nur knapp unterlag.
Merkel ist verärgert
Als Rösler die Position der FDP den Partei- und Fraktionschefs der Union vorträgt, verhärten sich die Positionen. Merkel macht verärgert erneut klar, dass sie Gauck nicht mittragen wird. Sie hatte ihn 2010 abgelehnt, jetzt fürchtet sie das späte Eingeständnis eines Fehlgriffs mit Wulff. Merkel hat sich also verrechnet: Sie hatte bei der Wulff-Nachfolge aufs Tempo gedrückt, eine Hängepartie wollte sie auf jeden Fall vermeiden – sie hoffte, eine schnelle und gemeinsame Lösung würde ihr mit Blick auf die Bundestagswahl einen strategischen Vorteil mit neuen Koalitionsoptionen verschaffen. Schon wenige Stunden nach Wulffs Rücktritt telefoniert sie mit SPD und Grünen, später gibt es immer wieder SMS-Kontakte. Doch die FDP bremst. Die Parteispitze fürchtet, ins Abseits zu geraten. Der kleine Koalitionspartner will verhindern, dass sich die Bundeskanzlerin über seinen Kopf hinweg mit SPD und Grünen einigt.
Die Liberalen bestehen darauf, dass die Koalition Handlungsfähigkeit beweist und Rot-Grün einen Kandidaten vorschlägt, statt gemeinsam mit der Opposition nach einem zu suchen. SPD und Grüne andererseits haben klare Vorstellungen: Sie schlagen Merkel als Favoriten Gauck vor, dazu Ex-Umweltminister Klaus Töpfer (CDU). Und sie signalisieren, dass sie auch den Ex-Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber, für präsidiabel halten. Aber, so stellen die Spitzen von Rot-Grün auf einer Pressekonferenz am Samstag klar: Ein aktives Kabinettsmitglied werde man auf keinen Fall mitwählen und möglichst auch „keinen aktiven Politiker einer Partei“.
Ziemlich viele Einschränkungen.
Minister? – Gestrichen
So beginnt ein Marathon fruchtloser Gespräche in der Koalition, bei dem sich die Kandidatenliste rasch verkleinert. Nach einer ersten Beratung der Parteichefs am Freitagabend werden am Samstag im Kanzleramt viele Namen gestrichen: Die Minister de Maiziere, von der Leyen und Schäuble sind wegen der rot-grünen Festlegung aus dem Spiel. Über Joachim Gauck wird kurz gesprochen, Merkel winkt ab, auch in der Unionsfraktion gibt es Bedenken. Klaus Töpfer? Die Liberalen sagen Nein: Der frühere Direktor des UN-Klimaprogramms steht den Grünen so nah, dass seine Wahl ein Signal für Schwarz-Grün wäre. Ähnlich wird später aus der FDP gegen die scheidende Oberbürgermeisterin von Frankfurt, Petra Roth (CDU) argumentiert.
Am Samstagmittag scheint der Durchbruch trotzdem nahe: Die Koalition verständigt sich auf Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts; den 48-Jährigen hatte einst die SPD nominiert, doch ist er parteipolitisch ein unbeschriebenes Blatt. Der Konsenskandidat scheint gefunden – doch Voßkuhle sagt nach kurzer Bedenkzeit ab. Und auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) teilt wenig später mit, dass er nicht zur Verfügung steht. Es bleibt Wolfgang Huber.
Der rhetorisch beschlagene Theologe gilt als SPD-nah, wollte sogar schon mal für die Genossen in den Bundestag. Das ist der FDP zu viel, das Präsidium beschließt Ablehnung; den Grünen ist Huber andererseits zu konservativ.
Für Merkel wird es eng: Nach zwei Präsidenten-Rücktritten muss der nächste Kandidat überzeugen – und möglichst von fünf Parteien getragen werden. Geht das überhaupt? Einer Lösung, hat Merkel schon am Freitag geahnt, werde man sich nur schrittweise nähern.